Darkover 04 - Der Untergang von Neskaya
ihren Körper so gut wie nicht wahr. Als sie an sich herabsah, erblickte sie lediglich die geisterhaften Umrisse mit Schleiern verhüllter Glieder. Durch irgendeinen unheimlichen Zauber war sie zu einer Geistererscheinung in dieser eigenartigen, farblosen Welt geworden. Trotzdem fühlte sie sich mit dem wild in ihrer Brust pochenden Herzen stofflich genug.
Tramontana! Wo sollte sie den Turm in dieser monotonen Welt suchen? Sie wusste nicht einmal, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse, den Horizont mit ihrem Blick absuchend.
In der Ferne machte Taniquel ein gedrungenes Gebäude aus, aus dessen Inneren ein sanft strahlendes Licht leuchtete. Sie ging darauf zu. Es wurde größer, viel schneller, als es der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegte, angemessen war. Womöglich bedeuteten Entfernungen hier etwas anderes als in der normalen Welt. Als sie näher kam, sah sie, dass es sich um eine Art Turm handelte, aber von einer Architektur, die ihr völlig unbekannt war. Er sah eher wie die Kulisse eines Theaterstücks aus, wie in einer Aufführung, die sie einmal in Thendara besucht hatte, weniger wie ein Ort, an dem Leute wirklich arbeiteten und wohnten. Wild gezackte strahlende Linien blitzten über seine Oberfläche. Ein leicht metallischer Geruch hing in der Luft, der sie an ein Sommergewitter erinnerte. Innerhalb der flackernden Aura war kein Mensch zu sehen.
»Was ist das für ein Ort?«, rief sie laut. Ihre Stimme hörte sich dünn und blechern an. Sie holte tief Luft und versuchte es noch einmal, lauter jetzt: »Zeigt euch! Wo bin ich hier?«
Als die Minuten ohne eine Antwort verstrichen, fing sie an, um den Turm herumzugehen. Was sie auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte, überraschte sie. Anstelle der gleißenden, bis auf die zuckenden glitzernden Linien nichts sagenden Oberfläche befand sich dort ein riesiges, rundes Stück blau gefärbtes Glas, doppelt so hoch wie ein Mensch, das in einem Gestell aus silbrigem Metall aufgehängt war. Als sie staunend zusah, wie es darin herumwirbelte, als stieße eine unsichtbare Hand es an, musste sie an eine gigantische Linse denken. Etwas in der Art hatte sie schon einmal gesehen. Damit hatte man die Energie der Sonne gebündelt, um Feuer zu entfachen.
Wenn sie blinzelte, konnte sie die Strahlen einer unsichtbaren Kraft fast sehen, die aus dem Inneren des Turmes durch die Linse strömten… und aus der Überwelt verschwanden. Mit einem leisen Schauder wurde ihr klar, dass sie vor der psychischen Manifestation des Turms von Tramontana stand, der vor ihren Augen den Wahnsinn auf das Lager ihres Onkels niederregnen ließ. Hier war sein Ursprung. Hier musste sie ihm Einhalt gebieten.
Mit einem unartikulierten Schrei warf sie sich gegen die Linse, in der Absicht, die Ausrichtung zu ändern. Doch kaum hatten ihre Fingerspitzen die silbrige Einfassung und das blaue Glas berührt, sprangen Stöße elektrischer Energie daraus hervor und traktierten sie wie mit tausend schmerzhaften Nadelstichen. Ihr Körper zuckte zurück, ihre Arme ließen die Linse unwillkürlich los.
Noch einmal streckte sie die Hände aus. Wieder war es so, als wollte man ein Bündel Blitze packen oder als langte man mit nacktem Arm in ein Nest Skorpionameisen. Sie wankte zurück und ging taumelnd in die Knie. Ihr Körper war mit Gänsehaut bedeckt, jeder Nerv in ihrem Körper schrillte. Zu wütend, um klar denken zu können, stand sie wieder auf, marschierte zur glatten Seite des Turmes zurück und trat dagegen.
Zu Taniquels Verwunderung traf ihr Fuß nicht auf harten Stein. Etwas federte den Tritt ab, hielt ihn jedoch nicht auf. Da sie mit einer unnachgiebigen Oberfläche gerechnet hatte, verlor sie beinahe das Gleichgewicht, als ihr Fuß darin versank. Ohne Schwierigkeiten zog sie ihn wieder heraus und holte zum nächsten Tritt aus.
Zack! Zurückziehen… zack, noch einmal!
»Wer ist da unten und spielt Kinderspielchen an unserem Tor?«
Eine dumpf hallende Stimme wie aus einer Gruft. Und dabei noch vertraut.
»Tramontana!«, rief sie, so laut sie konnte. »Hör mir zu! Ich bin Taniquel, Königin von Acosta! Im Namen von König Rafael Hastur verlange ich, dass du diesen abscheulichen Bann unterbrichst! Lass gewöhnliche Soldaten ihre Schlachten ohne Einmischung schlagen!«
Eine vor Intensität blendende Woge der Energie schwappte über die Oberfläche des Turms. Taniquel legte schützend die Arme vor die Augen. Ihr glühend heißer Atem
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