Darkover 06 - Die Flamme von Hali
konnte nicht besonders alt gewesen sein. Sie erinnerte sich nicht an gewölbte, altersdunkle Ränder oder das Knistern von Pergament, als er sie beiseite geschoben hatte. Die Schriftrolle war geschmeidig gewesen, wenn auch eine Schattierung dunkler als das kremige Weiß einer neuen.
Also Unterlagen aus jüngster Zeit…
Sie zog größere Kreise durch den Raum, als könne sie auf diese Weise einen schwachen Hinweis auf seine Gegenwart, seine Absichten spüren. Ihre Bewegungen führten sie an den Regalreihen vorbei zurück zum Hauptkorridor. Die Unterlagen hier waren noch neuer. Als sie mit ihrem Laran Umschau hielt, spürte sie die Handwerker, die das Pergament und die Hülle vorbereitet hatten, die Schreiber, die Federn in Tinte getaucht hatten, den Archivar, der sie so sorgfältig angeordnet hatte. Wer immer die Verantwortung getragen hatte, als diese Zeit aufgezeichnet worden war, hatte ungewöhnlich hohe Maßstäbe angelegt. Jede einzelne Schriftrolle lag schön ordentlich neben ihren Nachbarn.
Nein, eine lag etwas schräg, als wäre sie herausgezogen und hastig wieder zurückgeschoben worden.
Dyannis strich mit den Fingerspitzen über diese Rolle. Sie sondierte sie geistig und drang durch die Hülle vor. Dem Pergament hafteten noch leichte Spuren des lebenden Tiers an, dessen Haut es einst gewesen war. Damit verbunden spürte sie eine große Ernsthaftigkeit, einen Schatten, eine Bürde und wusste, dass es sich um den Verstand des Schreibers handelte. Er hatte die Gabe besessen, ganz ohne Zweifel, und ein gewisses Maß seiner Emotionen haftete noch an dem Dokument.
Aus einem Impuls heraus nahm Dyannis die Schriftrolle und ging damit zum Schreibtisch. Sie stellte sich vor, wie Eduin an jenem Tag genau das Gleiche getan hatte, vielleicht mit derselben Schriftrolle. So hätte er sie auch getragen und auf die Schreibtischplatte gelegt.
Dyannis spürte eine Reaktion, als sie das Pergament aus der Hülle zog. Sie war so schwach, dass sie ihr gar nicht aufgefallen wäre, wenn sie nicht ausdrücklich daran gedacht hätte. Er hatte mit der Rolle hantiert.
Sie nahm in dem Stuhl mit der harten Rückenlehne Platz und zog die Schriftrolle behutsam auf. Es war eine historische Chronik, aber als sie eine Zeile nach der anderen dieser exakten Kalligraphie las, drängte sich ihr der Eindruck auf, dass über das Aufgeschriebene hinaus noch viel mehr geschehen war. Es gab zu viele nichtssagende Phrasen, zu viele Lücken. Etwas war absichtlich unausgesprochen geblieben. Unterdrückt worden?, fragte sie sich. Versteckt?
Oberflächlich dokumentierte die Schriftrolle die Ereignisse vor einer Generation, die manchmal Hastur-Aufstand oder Hastur-Kriege genannt wurden, weil damals König Rafael II. sich gegen den Willen des Comyn -Rates gestellt, auf die Seite seiner Nichte Taniquel Hastur-Acosta geschlagen hatte und auf eigene Faust gegen Damian Deslucido von Ambervale vorgegangen war. Dyannis kämpfte sich durch die verworrenen politischen Begründungen für die Auseinandersetzung. Deslucido hatte anscheinend auf der Grundlage einer Ehe zwischen seinem Sohn und Königin Taniquel Anspruch auf bestimmte Hastur-Ländereien erhoben. Rafael hatte in Taniquels Namen die Rechtsgültigkeit der Ehe geleugnet und behauptet, dass Taniquel, durch Deslucidos blutige Eroberung Acostas neuerlich verwitwet, nie ihre Zustimmung gegeben hatte.
Sie wäre nicht die erste Frau von Rang, die man in eine solche Ehe gezwungen hatte , dachte Dyannis wütend. Und wenn sie sich dann nicht in ihr Schicksal fügte und ihrem neuen Herrn zu Gefallen war, würde sie nach der Geburt des ersten Sohns, den er mit ihr gezeugt hatte, um seinen Anspruch auf den Thron zu sichern, lautlos verschwinden .
Der Rat verfügte noch immer über beträchtliche Macht, und selbst König Carolin musste erst dessen Zustimmung einholen, bevor er Lady Maura Elhalyn ehelichen konnte, aber Dyannis hatte nie gehört, dass eine Ehe gegen massiven Widerstand erzwungen worden wäre.
Die beiden Könige waren bei Drycreek aufeinander getroffen, das wegen des Knochenwasserstaubs , das Deslucidos Magierbruder Rumail entfesselt hatte, auch heute noch für Mensch und Tier unpassierbar war. Letzten Endes hatte jedoch König Rafael den Sieg davongetragen.
»… und die schreckliche Geißel auf ewig beseitigt… «
Was für eine seltsame Art, einen militärischen Sieg zu beschreiben, dachte Dyannis. Sie hatte angenommen, dass Deslucido und
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