Darkover 06 - Die Flamme von Hali
sein Sohn entweder in der Schlacht ums Leben gekommen oder ins Exil gegangen waren. Von dem Bruder, einem gesetzlosen Laranzu , wurde vermutet, dass er seiner eigenen Schurkerei zum Opfer gefallen war, denn es war nie eine Spur von ihm gefunden worden. Besiegte Könige neigten wie verwitwete Königinnen zum Verschwinden, ohne dass es jemanden sonderlich betrübte.
Dyannis richtete ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart, ließ die Schriftrolle wieder zusammenschnurren, verstaute sie in der Hülle und legte sie ins Regal zurück. Was auch immer der Historiker unter so viel Qualen hatte verbergen wollen, musste vergessen bleiben. Sie hatte aus diesen Unterlagen nicht mehr erfahren.
Die Schriftrolle hatte eindeutig nichts mit dem alten Hastur-Stammbaum zu tun. Die einzige Erklärung für Eduins Interesse konnte sein, dass er das Leben von König Rafael oder Königin Taniquel verfolgt hatte.
Was bedeutete, dass Varzil Recht und Eduin einen Grund gehabt haben könnte, Carolin Hastur zu hassen, selbst als sie noch Jugendliche in Arilinn gewesen waren. Hatte Eduin wirklich versucht, Carolin zu töten? Dyannis glaubte es nicht ganz, denn sie hatte Eduins Liebe für Carolin gespürt, aber beschlossen, die Voraussetzung zu akzeptieren, erst einmal abzuwarten, wohin das führte.
Wenn Carolin, warum dann Felicia? Allem Anschein nach hatten er und Eduin im Hestral-Turm in bestem Einvernehmen miteinander gearbeitet.
Eduin konnte nicht gewusst haben, dass sie eine Hastur war. Varzil hatte beteuert, wie sorgfältig sie ihr Geheimnis hütete. Eduin hatte keine Möglichkeit gehabt, es herauszufinden…
Oder doch?
Im Zimmer war es auf einmal eiskalt. Dyannis schwankte und musste sich am Pfosten eines der Regale festhalten, um nicht umzukippen. Wie ein ungeheurer Vulkanausbruch drang brodelnd heiß und ätzend die Wahrheit aus ihrer Erinnerung.
Er wusste es. Er wusste es, weil ich es ihm gesagt habe .
Dyannis ließ sich auf den Boden nieder, ohne auf den Staub zu achten. Ihr Herz hämmerte wie ein wildes Tier im Käfig ihres Brustkorbs. Galle stieg in ihr hoch, und sie schluckte schwer, um sich nicht zu erbrechen.
»Ein unbedeutender Turm für eine Möchtegernthronerbin«, das hatte Eduin gesagt, als sie ihm erzählte, dass der Hestral-Turm Felicia als Unterbewahrerin ausbilden würde. Und dann…
Ich habe es ihm gesagt .
Varzil hätte Felicias Geheimnis nie verraten. Varzil hätte die Kränkung unbeachtet gelassen, aber sie war in ihrem Stolz damit herausgeplatzt.
Es spielte keine Rolle, dass sie keinen Grund hatte, Eduin zu misstrauen. Es spielte keine Rolle, dass er selber Geheimnisse hatte, diese Bereiche seines Geistes, die jeden Annäherungsversuch wie polierter Stahl ablenkten.
In einem Augenblick vorsätzlicher Unbedachtheit hatte sie das Leben einer der genialsten und tapfersten Leroni ihrer Generation und der Geliebten ihres Bruders zerstört.
Es war meine Schuld, meine!
Auf einer gewissen Ebene, irgendwo im tiefsten Inneren ihres Herzens, hatte sie immer gewusst, was sie getan hatte. Es waren nicht die unbesonnenen Taten beim Aufstand am See, die sie an ihrer Schuld festhalten ließen, sondern diese erheblich tiefer gehende Missetat.
Bei dem, was ich getan habe, kann ich keine Bewahrerin werden. Ich verdiene es ja nicht einmal zu leben .
Langsam kam Dyannis wieder zu sich. Wie lange sie dort gelegen hatte, auf dem Boden des Archivs zu einem gefolterten Ball zusammengerollt, konnte sie nur vermuten. Vor dem Fenster wurde der Himmel bereits dunkel. Sie zitterte, als sie sich aufrappelte, obwohl es in dem Zimmer nicht kalt war. Das Frösteln war tief in ihr. Ihre Muskeln zuckten, als hätte sie einen Zehntag lang ohne Unterlass gearbeitet, und ihr Bauch verkrampfte sich.
Varzil hätte sie für diese emotionale Hysterie getadelt, für diese dramatische Maßlosigkeit. Er hatte Recht. Ob sie nun an Felicias Tod schuld war oder nicht, sie hatte kein Recht, sich in Selbsthass zu ergehen. Oder zuzulassen, wie sie hinzufügte, dass ein armer Novize sie fand.
Ich mache es mir immer so schwer .
Mühsam begab sie sich zur Tür. Ihr Körper benötigte Wasser, Nahrung und Ruhe. Ihr Geist bedurfte der Stille, um den nächsten Schritt zu planen. Ihre Seele…
Die Krankheit, die ihre Seele plagte, lag jenseits des Heilvermögens eines Überwachers oder Arztes. Sie war nicht übermäßig religiös. Die Schreine Cassildas und der Dunklen
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