Darkside Park: Mystery-Thriller (German Edition)
sie ›Watsons‹. Meistens sind es junge Männer, aber es gibt auch Frauen. Sie kommen von überall her, nur nicht aus Porterville. Alle, die ich kennengelernt habe, hatten keinerlei Kontakt zu ihren Familien. Es waren erstaunlich viele Vollwaisen dabei. Und noch eine Gemeinsamkeit: Sie alle waren irgendwann in ihrem Leben mal auf die schiefe Bahn geraten. Die meisten hatten bereits Haftstrafen hinter sich. Kurz gesagt, es sind Menschen, deren Verschwinden unbemerkt bleibt. Weil niemand da ist, der sie vermissen könnte. Ich vermute, man lockt sie irgendwie nach Porterville. Was dann passiert, weiß ich nicht. Es gibt viele Unfälle, andere begehen Selbstmord. Manche verschwinden einfach.«
Der Junge setzt sich schwerfällig in den Sessel. Er nimmt die Brille ab, vergräbt das Gesicht in seinen Händen.
»Was ist mit den anderen?«, fragt er durch die Finger hindurch. »Mit denen, die Familie haben und gut bezahlte Jobs. Die sich noch nie im Leben etwas zu Schulden kommen lassen haben.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht sind sie zu neugierig. Oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.« Ich hebe die Schultern. »Es gibt viele Gründe.«
Ich überlege, ihm von Martha zu erzählen. Wie alles anfing. Viele Gelegenheiten werde ich wohl nicht mehr haben. Was ich jetzt nicht teile, nehme ich mit.
»Da war diese Frau«, sage ich. »Sie war in meinem Alter, vielleicht etwas jünger. Martha hieß sie. Und sie hatte einen kleinen Kiosk oben an der Howard Street. Damals war ich viel unterwegs, nicht so wie heute. Aber egal, wohin es mich auch trieb, morgens ging ich immer zu dem kleinen Kiosk. Der Kaffee war scheußlich, dass muss man leider sagen, aber … Martha war nett. Sie war immer freundlich, hatte immer ein offenes Ohr. Ich glaube, sie war so was wie ein guter Mensch. Wenn es das überhaupt gibt. Und dann ist sie verschwunden. War einfach weg. Von einen Tag auf den anderen, niemand wusste etwas. Sie hat eine Schwester in Texas, aber die wusste genauso wenig. Ich mochte Martha und sie … ja, sie fehlte mir. Also habe ich angefangen, sie zu suchen.«
»Haben Sie sie gefunden?«
Ich schüttele den Kopf. »Aber vieles andere. Danach wollte ich nur noch weg aus der Stadt. Ich weiß nicht, warum ich geblieben bin. Vielleicht hatte ich Angst, es nicht zu schaffen. Und dann wurde es plötzlich von Tag zu Tag einfacher. Ich passte mich an, ich stellte keine Fragen mehr, und das Leben ging seinen Gang.« Ich atme aus, stehe auf. »Aber damit ist es jetzt vorbei. Wenn man einmal Aufmerksamkeit erregt hat, ist es vorbei. Es ist, als wäre man gebrandmarkt. Es gibt dann kein Zurück mehr.«
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragt der Junge.
»Ich werde dir helfen. Ich meine, richtig helfen. Ich gehe mit dir.«
»Das müssen Sie nicht.«
»Ich kenne einen Weg in die psychiatrische Abteilung.«
»Sie könnten die Stadt verlassen.«
»Nein. Sie werden mich nicht gehen lassen. Ich habe das oft genug erlebt. So viele wollten schon fliehen. Keiner von ihnen hat es geschafft.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«, fragt er.
»Wäre es sonst noch so, wie es ist?«, frage ich zurück, und wir schweigen. Nach einer Weile sage ich: »Ein kluger Mann hat mal gesagt: Wenn es keinen Ausweg mehr gibt, wenn du keine Möglichkeit siehst, aus einer Sache herauszukommen, dann bleibt dir nur eine Richtung, in die du gehen kannst: Tiefer hinein.«
Ich stehe auf, schiebe das Sofa Richtung Wand. Der Junge hilft mir. Ich gehe zu meinem Mantel und hole das Messer aus der rechten Tasche. Ich knie mich auf den Boden und stecke die Klinge in den schmalen Schlitz zwischen den Holzdielen. Ich benutze das Messer als Hebel. Die erste Diele löst sich, ich nehme sie heraus. Die anderen beiden sind leicht zu entfernen. Ich hole den Rucksack heraus. Die Karte finde ich zwischen den Tagebüchern.
»Was ist das alles?«, fragt der Junge.
»Das, was ich über diese Stadt weiß. Fotografien, Tonbänder, schriftliche Aufzeichnungen. Das Meiste wurde mir zugetragen, oder es ist auf anderem Wege in meinen Besitz gelangt. Manches stammt auch aus meinen eigenen Nachforschungen. Wenn wir diese Nacht überstehen, möchte ich, dass du dir das alles ansiehst.«
Er nickt.
»Es ist wichtig, dass das Wissen erhalten bleibt«, sage ich und setze die Diele ein.
Ich gehe in die Küche, und der Junge folgt mir. Ich öffne das Schloss, und der erste Spanngurt fällt auf das Linoleum. Wieder hilft mir der Junge, ohne zu fragen. Eines der Schlösser klemmt, ich
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