Darkside Park: Mystery-Thriller (German Edition)
zusammenhanglosen Formen hatten sich Gesichter, Tiere, Phantasiezeichen entwickelt. Es war immer ganz von selbst geschehen und hatte nie einer Anstrengung bedurft, um sie zum Leben zu erwecken. In jener Nacht jedoch war die Tapete leer, unbewegt. Ich konnte nichts in ihr erblicken.
Ich würde es nie wieder können.
Regentropfen tickten wie mit spitzen Fingernägeln an die Fensterscheibe. Die Luft schmeckte nach Gewitter. Ich stand vom Sessel auf und setzte mich an meinen Schreibtisch. Falkners Mappen lagen noch immer aufgeschlagen vor mir. Ohne wirklich darauf zu achten, begann ich, krakelige Bleistiftkreise an den Rand eines Papiers zu zeichnen. Ein grauer Kreis folgte dem anderen, Zifferblatt auf Zifferblatt, bis nur noch ein hässliches Gewölle zu erkennen war und meine Schläfen zu schmerzen begannen. Ich wollte an etwas denken, an irgendetwas, das mich von meinem Erlebnis ablenkte, mich von ihm fort trug und soviel Abstand zwischen uns brachte wie möglich. Ich schaute die Pinnwand an und versuchte, meine Gedanken an die exotische Farbenpracht einer alten Postkarte zu fesseln. Sie bot eine verlockende Aussicht auf Palmenstrand und Ozean, am Horizont ein leuchtend weißes Passagierschiff. Doch meine Augen hatten es schon vor langer Zeit zerlesen. Mein Blick prallte an der stumpfen Oberfläche ab, wurde sofort wieder aus dem Bild hinausgetragen, ohne sich zwischen Gischt und Dünen eingraben zu können. Auch die vielen bunten Merkzettel hatten nicht mehr genügend Kraft, um ihre Informationen in meinen Geist zu schleusen. Tote Buchstaben. Ich trank einen weiteren Whisky, legte eine ›Bill Haley‹-Schallplatte auf, stellte den Ton auf volle Lautstärke und ließ mich auf dem Sofa nieder. Irgendwann zwischen drei und vier Uhr morgens sanken meine tosenden Gedanken endlich zu Boden, und ich schlief ein.
Spät am nächsten Vormittag, glücklicherweise meinem freien Samstag, erwachte ich mit stechenden Kopfschmerzen. Alles wirkte matt und verschwommen, und es kam mir so vor, als hätte ich gerade einen furchtbaren Albtraum durchlebt. Allmählich nahm die Welt wieder Konturen an. Die Ereignisse der vergangenen Nacht erschienen mir im Licht des neuen Tages vollkommen fern und unwirklich. Nachdenklich betrachtete ich die fast leere Whiskyflasche. Für einen Moment überlegte ich ernsthaft, ob die nächtlichen Drinks tatsächlich die Reaktion oder doch eher die Ursache für meine scheußlichen Erinnerungen waren. Ein Blick auf die schmutzverkrusteten Schuhe vor dem Sofa und die dreckverschmierte Jacke im Flur beseitigten jedoch alle Zweifel. Trotzdem wirkte das Erlebte so wahnwitzig und entrückt, dass ich beim besten Willen nicht wusste, wie ich Hank davon erzählen sollte. Hank …
Plötzlich fiel mir siedendheiß ein, dass an diesem Tag ja Hanks Sohn Norman Hochzeit feierte – und ich war eingeladen! Hastig blickte ich auf die Uhr. Wenn ich mich sehr beeilte, konnte ich es gerade noch rechtzeitig bis zur Kirche schaffen.
Unter größten Mühen und massiver Verletzung des Tempolimits kam ich tatsächlich noch pünktlich zur Zeremonie. Augenblicklich wurde ich von der ausgelassenen Hochzeitsgesellschaft in Empfang genommen. So trieb ich einfach in der Masse mit, ließ mich dankbar von ihr vereinnahmen. Allmählich begannen die starken Kopfschmerztabletten zu wirken. Wie durch einen hellen Filter betrachtete ich das bunte Treiben um mich herum. Nach den unfassbaren Schrecken der Nacht wirkten das grenzenlose Glück und die überschäumende Freude der Menschen vollkommen surreal auf mich. Die jubelnden Gäste, die fröhlichen Gesichter, die Braut in strahlendem Weiß – alles war so unglaublich schön.
Nach der Trauung fanden die weiteren Feierlichkeiten bei Hank Parker statt. Sein Haus bot am meisten Platz, außerdem hatte er einen riesigen Garten, in dem nun zahlreiche blumengeschmückte Pavillons standen. Natürlich war es völlig undenkbar, Hank am heutigen Tag von meinem Erlebnis im ›Abidias Asylum‹ zu berichten. Ich konnte und durfte ihm den schönsten Tag im Leben seines Sohnes nicht ruinieren. So stürzte ich mich in belanglose Gespräche mit Hochzeitsgästen und sprach reichlich dem angebotenen Champagner zu. Irgendwann am späteren Nachmittag fiel mir auf, dass ich mein weißes Anzughemd großflächig mit irgendeiner violetten Flüssigkeit bekleckert hatte. Ich entschuldigte mich bei Hanks Frau Cathy, mit der ich mich gerade unterhalten hatte, und verließ die Terrasse. Das untere Badezimmer war
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