Darkyn: Dunkle Erinnerung (German Edition)
Ihre Augen wurden groß, als Michael hinter Gard und Ruby her ins Haus stapfte. »Philippe, was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?«
»Faryl sucht Hilfe bei Lucan, anstatt sich an den Seigneur zu wenden.« Der Seneschall verzog das Gesicht. »Das ist eine schwere Beleidigung.«
»Der Typ verrottet. Vielleicht sollten wir es als Gefallen betrachten.« Alex verstand die Situation noch immer nicht. »Und was will er denn überhaupt bei Lucan? Der ist doch kein Arzt, oder?«
»Nein. Faryl geht wegen seines Glaubens zu ihm«, erklärte Philippe leise. »Für Katholiken ist Selbstmord eine Sünde.«
»Ja, die können jeden Verrückten gebrauchen.« Sie rieb sich über den Nacken. »Und was will Faryl von Lucan? Mitleid? Soll er ihm die Beichte abnehmen? Will er sich dort vor seiner Familie verstecken?«
»Nein. Faryl will sich von Lucan töten lassen.«
3
Im dritten Stock eines Apartmenthauses am Palm Royal Place zu wohnen, brachte Samantha Brown drei Dinge: Abgeschiedenheit, Ruhe und den Blick auf einen Kanal anstatt auf ein Wohnhaus. Jeden Tag drei Etagen rauf- und runterlaufen zu müssen, gehörte nicht unbedingt zu den Vorteilen, vor allem an den Tagen, an denen sie eingekauft hatte, aber sie liebte Bewegung.
Um die Ruhe und die Abgeschiedenheit hatte sie allerdings sehr lange kämpfen müssen.
Sam war, ein paar Wochen nachdem Wesley Dwyer ihr neuer Partner geworden war, in ihre jetzige Wohnung gezogen. Sie war gezwungen gewesen, ihre alte Wohnung aufzugeben und sich eine Geheimnummer zuzulegen, als Dwyer anfing ihr nachzustellen, denn er machte ihr Angst, und sie wollte nicht, dass er wusste, wo sie wohnte.
Es gab noch drei weitere Wohnungen auf ihrer Etage. Zwei waren teure Dreizimmerapartments, die sich ältere Ehepaare gemietet hatten, die hier nur ihren Urlaub verbrachten. Die andere Wohnung, die wie ihre über zwei Zimmer verfügte, wurde von Kerianne Lewis bewohnt, einer attraktiven alleinstehenden Blondine, die ihre eigene Computerfirma leitete und genau wie Sam fast nie zu Hause war.
Zuerst hatte Sam versucht, Distanz zu den Nachbarn zu halten. Der Job machte die meisten potenziellen Freundschaften unmöglich, und sie war überzeugt davon gewesen, dass sie mit der hübschen, schicken Keri Lewis so viel gemeinsam hatte wie mit Laura Bush. Dann hatte sie an einem Wochenende Keri mit einem schweren Sessel auf der Treppe entdeckt und ihr geholfen, ihn nach unten zu tragen. Keri hatte sie auf einen Drink in ihre Wohnung eingeladen, und Sam hatte die modern in Rot, Schwarz und Weiß eingerichteten Räume bewundert.
»Wie gefällt es dir, eine Polizistin zu sein?«, hatte ihre Nachbarin gefragt, während sie auf ihrem winzigen Balkon mit Blick auf die andere Hälfte des Kanals Eistee tranken.
Sam zuckte mit den Achseln. »Es ist okay. Ich versuche, mich ins Morddezernat versetzen zu lassen.« Hauptsache weg von Dwyer, der da schon eine wahre Plage geworden war.
»Ich sehe dich nie in Begleitung von Männern«, meinte Keri.
»Keine Zeit.« Und noch weniger Lust, nachdem sie sich Dwyers ständigen Annäherungsversuchen erwehren musste.
»Du könntest deine Frisur ändern.« Sie deutete mit dem Kinn auf Sams Pferdeschwanz. »Dich ein bisschen schminken und schicker anziehen. Du hast eine tolle Figur. Sehr kurvig. Was trägst du, Größe vierunddreißig?«
»Sechsunddreißig. Achtunddreißig, wenn das Top nicht groß genug ausfällt.« Sie schnitt eine Grimasse und sah an sich herunter. »Ich würde das alles eintauschen gegen eine Körbchengröße A und die Chance, mal keinen BH zu tragen.«
Keri kicherte. »Und ich wäre gerne so gebaut wie du. Warum sind wir nur nie zufrieden mit uns selbst?«
Als Sam kurze Zeit später ging, wusste sie nicht mehr über Keri als zuvor, aber von dem Tag an waren die beiden Nachbarinnen wie alte Freundinnen miteinander umgegangen. Keri hatte Sam ein paarmal zum Essen eingeladen, und sie hatten sich zusammen einen Film angesehen. Sam fing gerade an es zu mögen, eine Freundin zu haben, als Dwyer es schließlich zu weit trieb und sie beinahe vergewaltigte, sodass sie eine offizielle Beschwerde im Büro für Interne Angelegenheiten einreichte.
Nach der Befragung, die Sam an jenem Tag durchzustehen hatte, war sie wütend und frustriert gewesen. Einer der IA-Cops hatte ihr, weil sie seine früheren Übergriffe nicht gemeldet hatte, unterstellt, Dwyers Belästigungen »stillschweigend erlaubt« zu haben. Sie war gezwungen worden, vier Tage Urlaub zu nehmen,
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