Darkyn: Dunkle Erinnerung (German Edition)
Ton erscheinen ließen; kurze Einblicke in das Leben durch die Augen des Opfers. Manchmal, wenn es starke Gerüche gab, konnte sie auch daraus lesen.
Das Glänzen einer langen, breiten Klinge, wie die der Schwerter, die Schauspieler in Piratenfilmen benutzten. Zwei Statuen, die zu springen schienen. Noch eine Statue. Ein kleiner, selbstzufrieden aussehender Mann, der im Schatten stand. Der Geruch des fauligen Wassers. Wieder das von einer Hand gehaltene Schwert, das herunterfuhr. Die Klinge, die in ein dickes Handgelenk schlug.
»Beeil dich, Mädchen«, hörte sie Harry aus weiter Ferne sagen.
Das Schwert kehrte immer wieder in ihren Kopf zurück. Ein so starkes Bild war ihr noch nie begegnet; es war, als hätte diese alte Klinge dem Opfer in den letzten Minuten seines Lebens alles bedeutet.
Sam ignorierte das stechende Brennen des Blutes auf ihrer Haut und den immer stärker werdenden Gestank des fauligen Wassers, während sie weiterlas.
Verkehr. Ein überfüllter Parkplatz. Die Tür eines Geländewagens wird geöffnet. Der Duft von getrockneten Algen, Salz und Sonnencreme. Der Strand. Ein Bürgersteig voller Leute, die darauf warten, in ein Gebäude eingelassen zu werden. Das Parfüm der Frauen, das Rasierwasser der Männer. Neonschilder, die darauf scheinen.
Obwohl die Berührung des Blutes der Toten in ihr nur Bilder und Gerüche hervorrief, ohne Geräusche oder irgendeinen Zusammenhang, dachte Sam plötzlich: Sag es mir. Sag mir, wer dir das angetan hat.
Sie hatte nicht viel Zeit; nicht nur, weil man sie nicht allzu lange mit der Leiche allein lassen würde, sondern weil sie aus dem Blut eines Opfers nur zwei oder drei Stunden nach dessen Tod lesen konnte. Wenn sie länger warteten, würde nichts passieren.
Dunkelheit. Dralle Pobacken unter einem kurzen schwarzen Rock. Kleine rote Augen in der Dunkelheit. Der scharfe Geruch von hochprozentigem Alkohol. Ein Männerklo. Ein Maßband. Körperausdünstungen gemischt mit dem Pinienduft eines Putzmittels, der über Urin- und Fäkaliengeruch lag. Ein Klemmbrett mit einem Formular darauf. Eine Fahrstuhltür, die sich schloss. Ein großer, breitschultriger Mann mit silberblondem Haar, der in den Fahrstuhl trat. Ein betörender Jasminduft …
Die Bilder verschwanden, als etwas ihre Hand vom Opfer wegzog.
»Sam.« Harry half ihr auf die Füße und hielt sie fest, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Tut mir leid, die Fotografen sind da.«
Vor den anderen Beamten und den Leuten von der Spurensicherung konnte sie nicht über das sprechen, was sie gesehen hatte, deshalb deutete sie auf den Kanal. »Da runter.« Sie blickte auf ihre schmerzende, vernarbte Hand. Es fühlte sich immer ein bisschen unangenehm an, nachdem sie in einem Opfer gelesen hatte. Diesmal hatte die Berührung des Blutes jedoch so gebrannt, dass sie fast erwartete, Rauch aus der Narbe aufsteigen zu sehen.
Harry sah besorgt aus, während sie auf die Jacht zugingen. »Geht es dir gut, Mädchen?« Er bot ihr eine Papierserviette von dem zusammengefalteten Stapel an, den er in seinem Jackett mit sich herumtrug. »Du bist klatschnass.«
Egal, wie das Wetter war, das Blutlesen ließ Sam immer stark schwitzen. Ihre Kleider klebten ihr am Leib, und sie spürte, wie Schweiß in einem kleinen, aber stetigen Rinnsal über ihren Rücken lief. Sam benutzte die Serviette, um ihr heißes, nasses Gesicht abzuwischen, und durchnässte sie völlig; Harry musste ihr noch eine geben, bevor es ihr gelang, ihr Gesicht zu trocknen.
Sie blickte auf die Statuen. »Er ist gerannt. Deshalb sah es aus, als wenn sie springen.«
»Wer ist gesprungen?«
»Die Statuen – ich meine, das Opfer. Ich glaube, er ist vor seinem Tod vor etwas weggerannt. Der Mörder hat ein Schwert benutzt.« Der Duft von Jasmin füllte plötzlich ihren Kopf, und ihre Beine zitterten mit einem Mal so stark, dass ihre Knie beinahe nachgaben.
»Ganz ruhig.« Harry war dicht bei ihr und legte ihr den Arm um die Hüfte. »Atme. Du bist schon ganz blau im Gesicht.«
Sie atmete ein. Selbst der Gestank des schmutzigen Kanalwassers war besser, als in diesem feinen, blumigen Duft zu ertrinken. »Warum bin ich nicht zum Militär gegangen?«
Harry tätschelte liebevoll-ungeschickt ihre Schulter. »Dann hätten dir nur irgendwelche Terroristen im Irak den Kopf weggeblasen.«
»Hätten sie das, ja?« Sie drehte sich um und starrte die Statuen an, erinnerte sich an das Bild von dem Schwert zwischen zweien von ihnen und dann, wie das Schwert den Kopf des
Weitere Kostenlose Bücher