Darkyn: Dunkle Erinnerung (German Edition)
zu, bevor er zu der alten Dame ging, um sie mit Worten zu trösten, so gut er es vermochte. Sam nutzte die Gelegenheit, um sich J.R.s Zimmer anzusehen, das sie am Ende des Flurs fand.
Der Raum musste Montgomerys Kinderzimmer gewesen sein, aber es war nicht zu einem Schrein seiner Kindheit geworden. Seine Mutter musste die Einrichtung bei einem dieser Einkaufssender bestellt haben, dachte Sam, während ihr Blick über die großen, unangenehm grellen Blumenmuster auf den Vorhängen, der Tagesdecke und dem Bettvorleger glitt. Das Einzige, das nicht passte, war die Tapetenbordüre, die an der Decke entlanglief und auf der gemalte Kätzchen Wollknäuele und einander jagten. Auf dem Nachttisch lag eine Ausgabe von Reader’s Digest , und im Schrank fand Sam zwei Paar getragene Sneaker, eine alte Jeans und einige mit Farbe bespritzte T-Shirts.
Die echten Katzen im Raum – sieben davon – schliefen auf der Tagesdecke des Bettes.
Harry steckte den Kopf zur Tür herein. »Sie hat eine Tablette genommen und sich hingelegt. Schon was gefunden außer noch mehr Katzen?«
»Nicht viel. In seiner Wohnung stoßen wir vermutlich eher auf etwas.« Dennoch sah Sam in allen Schubladen, unter der Matratze und in den Schuhen nach, bevor sie sich umblickte. »Keine Fotos, keine persönlichen Dinge. Ein paar vertrocknete Haarbälle.«
»Ich sehe mal im Bad nach.« Harry verschwand und kehrte ein paar Augenblicke später zurück. »Eine Toilette, ein Waschbecken, eine Rolle Klopapier und drei Katzenklos, aus denen die Scheiße quillt.«
Sam spürte, wie plötzlich ein unwillkommenes Gefühl des Mitleids mit der alten Dame in ihr aufstieg, als sie sah, wie fünf neue Katzen ins Zimmer huschten und an ihnen schnupperten. »Er hat die vermutlich für sie sauber gemacht.«
Harry rieb sich über das Kinn. »Wie viele Tiere hat sie, denkst du?«
»Mehr, als der Tierschutzverein wissen will.« Sam roch erneut verwestes Fleisch. »Ich glaube, ein paar könnten auch tot sein.«
»Ich funke mal das Gesundheitsamt an und frage, wer für so was zuständig ist.« Harry stieg über eine trächtige Katze, die sich mit einem großen silbernen Kater anfauchte. »Sollen wir dann zu seiner Wohnung fahren?«
»Ich möchte, dass die Spurensicherung da vor uns reingeht. Sie können Fingerabdrücke nehmen.« Sam sah auf ihre Uhr. »Musst du nach Hause und ein bisschen schlafen?«
»Nachdem ich diese Leiche sehen musste? Da kann ich ein paar Tage nicht schlafen«, versicherte ihr Partner ihr.
Sam ging es genauso. Sie verspürte den überwältigenden Drang, Lucan wiederzusehen, wollte ihm in die Augen sehen, wenn sie ihm von diesem zweiten Mord erzählte. »Dann holen wir uns was zu essen, halten noch mal bei Montgomerys Firma und fahren dann in den Nachtclub.«
11
Lucan träumte von jenem letzten Tag, den er in Rom mit seinem Tresora verbracht hatte.
Der Boden der kleinen Kammer, die Lucan nachts als Rückzugsmöglichkeit nutzte, war zu einer Art riesiger Sonnenuhr geworden; die schmalen goldenen Streifen aus Licht, die durch die Ritzen in den geschlossenen Fensterläden fielen, bewegten sich langsam durch den Raum. In der dunkelsten Ecke zu sitzen, war sein einziger Komfort, während er die Streifen beobachtete; obwohl sie geschützt waren, juckten seine Augen. Weil er sich die verschiedenen Positionen von Licht und Schatten während der Woche, die er jetzt schon in diesem Zimmer war, gemerkt hatte, wusste er, dass es kurz vor vier Uhr nachmittags sein musste.
Möchte jemand Tee?
Lucans Tresora Leigh lag allein in dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers. Er war im Morgengrauen aufgewacht, um einen weiteren Tag mit Husten zu verbringen. Die Anfälle waren langsam schlimmer geworden, und jetzt spuckte er bei jedem Mal Blut: dunklen Auswurf und gelegentlich auch nur helles Blut. Am Morgen war es immer am schlimmsten, doch heute ließen die Anfälle überhaupt nicht mehr wie sonst nach.
Ein Aspekt von Lucans schrecklicher Existenz war, dass er schnell und sauber tötete. Krankheiten ließen sich im Vergleich dazu viel Zeit und amüsierten sich. Leigh war jetzt schon seit mehr als einem Monat fast tot.
Wie lange kann denn diese posthume Existenz noch dauern?
Lucan wünschte, er könnte Mitleid empfinden oder Schuld. Seit Tagen konnte Leigh keinen Stift mehr in der Hand halten oder in irgendeinem der Bücher lesen, die Frances ihm brachte. Er durfte nie allein gelassen werden, denn er konnte ohne Hilfe nicht aufstehen. Sein eitriger Hals
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