Darling, fesselst du schon mal die Kinder?: Das heimliche Tagebuch der Edna Fry
Stephen.«
»Ja?«
»Er ist …«
»Ja?«
»Verzeihung, meine Damen.«
Ich sah auf. Ein hochgewachsener, sehr attraktiver Mann in einem weißen Kittel beugte sich über den Tisch und bedachte uns mit einem strahlenden Lächeln. Er hatte ein breites, männliches Kreuz, und seine Augen waren vom leuchtendsten Blau, das ich je gesehen habe. »Es tut mir leid, wenn ich Sie unterbrechen muss«, sagte der Arzt und tippte auf seine Armbanduhr, »aber ich fürchte, die Besuchszeit ist vorbei.«
Unter unseren Krempen hervor funkelten wir ihn unisono an, und er richtete sich forsch auf.
»Nun«, sagte er, und seine leise Amerikanerstimme zitterte unmerklich. »Fünf Minuten kann ich Ihnen wohl noch lassen. Aber nur fünf Minuten, ja?«
Ich stieß geräuschvoll die Luft aus und wandte mich wieder meiner Großtante zu. Gott sei Dank! Ich wusstenicht, wie ich es hätte ertragen sollen, jetzt noch einen ganzen Tag warten zu müssen, bis ich erfuhr, was sie mir nun über meinen Stephen zu sagen hatte.
»Nun?«, fragte ich.
»Nun«, fuhr sie finster entschlossen fort. »Die Sache ist die: Dein Stephen ist nicht der, für den du ihn hältst.« Ich runzelte die Stirn.
»Wie meinst du das ›ist nicht der, für den du ihn hältst‹?«, fragte ich mit wachsender Angst vor ihrer Antwort.
»Dein Stephen ist …«
»Ja?«
»Er ist …«
Dummerweise wählte meine Großtante Audacia diesen Augenblick, um wieder an ihrem Whisky zu nippen. Dümmererweise wählte sie diesen Schluck, um sich zu verschlucken und tot aus dem Sessel zu kippen.
15. März, Dienstag
Konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Zu viele Gedanken wirbelten mir im Kopf herum. Was ist das für ein schreckliches Geheimnis, in das mich Großtante Audacia einweihen wollte, bevor sie so plötzlich und unerwartet verschied? Welch grausige Übeltat hat Stephen mir all die Jahre verheimlicht? Warum wusste sie davon? Und wenn sie es wusste, wer wusste es dann noch? Wenn die Toten doch nur sprechen könnten – aber die Sanitäter sagten, dass jede Hilfe zu spät kam, sooft ich auch auf ihre Brust eintrommelte und sie ohrfeigte …
Ich habe den ganzen Tag versucht, mich mit Alltagskram wie Waschen, Bügeln und Kindererziehung abzulenken, aber nichts hilft. Nun, dann gibt es nur eine Lösung. Die einzige Konstante meines Lebens. Das Einzige, worauf ich mich verlassen kann – Kochen. Ich habe für heute Abend Stephens Lieblingsgericht gekocht. Oder nicht? Woher will ich das wissen? Oje …
16. März, Mittwoch
Bekam heute Vormittag einen Anruf vom Pflegeheim. Ob ich wohl so nett wäre, mich um Großtante Audacias Trauerfeierlichkeiten zu kümmern. Anscheinend will ein anderer Bewohner ihren Sessel haben. Ich setzte mich sofort an den Computer und loggte mich bei LastMoment.com ein. Zum Glück gab es bei denen gerade eine Stornierung, und ich konnte einen Termin am übernächsten Freitag reservieren. Der Preis war ganz anständig, wobei Sargsteuer, Abkanzelgebühr, Banknutzungszulage und Leichenwagen noch nicht inbegriffen waren. Bei Letzterem konnte Stephens Kumpel Barry uns zum Glück aushelfen, der hat eine Mietwagenfirma. Er schuldet Stephen einen Gefallen und leiht uns einen Leichenwagen zu einem guten Preis. Ich weiß nicht genau, was Stephen ihm für einen Gefallen getan hat. Ich weiß langsam auch nicht mehr, ob ich das noch wissen möchte.
17. März, Donnerstag
Stephen hat sich die Haare grün gefärbt und schon vor dem Frühstück drei Pints Guinness hinter die Binde gekippt. Was er wohl erst macht, wenn er rausfindet, dass heute St. Patrick’s Day ist.
18. März, Freitag
Ein mörderischer Kater hatte Stephen heute Morgen fest im Griff. Er musste vor dem Spiegel essen, um den Mund zu treffen. Ich fühle mich etwas ruhiger als in den letzten Tagen, obwohl ich mich immer noch frage, was Großtante Audacia bloß gemeint haben kann. Ach Tagebuch, ich bin so verwirrt.
19. März, Samstag
Viennetta hat wieder einen jungen Mann mit aufs Zimmer genommen. Ich verstehe nicht, warum sie nicht wie ihre Freundinnen in der Drogerie jobbt.
20. März, Sonntag
Habe zum Mittagessen eines meiner zeitsparenden Zwei-in-eins-Gerichte gemacht. Spamkuchen mit wahlweise Braten- oder Vanillesoße. Stephen hat natürlich doppelte Portionen gegessen, obwohl erbehauptete, er hätte keinen Hunger. Und dann ins Bad stürzte und sich weigerte, wieder rauszukommen. Immer sitzt ihm der Schalk im Nacken.
21. März, Montag
Heute Morgen war ein Brief von der
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