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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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alter Zauberer? Respekt«, fragte er den unsichtbaren Pfad und redete sich ein, dass er irgendeine Präsenz spürte. »Ich werde dich trotzdem finden.«
    Niall lief gerade schwungvoll einen Hügel hinauf, als ihm seine Augen einen Streich spielten. Zuerst dachte er, ein Wunder sei geschehen und sein Flehen erhört worden, aber dann akzeptierte er, dass er nicht träumte. Er kniete sich nieder und berührte ein zartes, zerbrechliches Blümchen, das seine fünf Blätter geöffnet hatte, um ihn in seiner stummen Welt willkommen zu heißen.
    Es war eine winzige, frisch erblühte Waldanemone, die sich an den kalten Strahlen des Mondes labte.
    Niall berührte sie sanft mit der Fingerspitze und spürte die pergamentdünnen Blätter, geriffelt wie die Flügel einer Libelle. Dann hob er den Kopf und wusste, dass er auch im dunkelsten Teil des Waldes nicht den Weg verlieren würde. Denn die kleine Blume war nicht allein. So weit das Auge reichte, sah Niall, wie sich das Mondlicht auf unzähligen weißen Anemonen brach, die den Weg vor ihm sogar noch heller erleuchteten als damals vor vielen Jahren, als er mit Danny vor seiner Angst davongerannt war.
    »Ein Sternenteppich, Roisin«, sagte er. Plötzlich fühlte er sich innerlich ganz ruhig und erlebte den ersten Moment der Entspannung, seit er vor einer Million Jahren das seltsame Paket in seinem Postamt gefunden hatte. Er nahm einen Pfad zu dem Bereich des Berges, den er noch nicht kannte, und spürte die unsichtbaren Funkwellen des Zauberers über die Baumkronen streifen. Kein Eindringling würde ihnen verborgen bleiben.
    Niall wusste ganz genau, dass Zauberer nicht Klavier spielen.
    Und doch hörte er es. Kunstfertige Hände zauberten aus den Tasten Cole Porters »Anything Goes« hervor, allerdings in fast halsbrecherischer Geschwindigkeit. Niall glaubte einen Augenblick lang sogar, jemanden summen zu hören.
    Die einzigen mythischen Kreaturen, die Nialls Wissen nach Reisende mit Gesängen in ihre Fallen lockten, waren Meerjungfrauen. Mächtige Adepten der schwarzen Magie würden wahrscheinlich stattdessen die Tiere des Waldes durch Zauber darauf trainieren, Feinde anzugreifen. Fremde wie ihn würden sie durch einen geschickt platzierten Zauberspruch lähmen. Musik wie diejenige, die durch das dichte Unterholz zu ihm drang, gehörte in eine verrauchte Kneipe in den Zwanzigerjahren. Als er an kerzengerade gewachsenen Aronstäben vorbeikroch, in denen die Säfte des Frühlings pulsierten, stellte er sich einen Vaudeville-Künstler vor, der auf einer friedlichen Lichtung Rehe und Hasen unterhielt. Er zwängte sich an einem Dornengestrüpp vorbei, das ein Loch in die Jeans riss, die Mrs. Crimmins ihm gegeben hatte, und fluchte.
    So plötzlich, wie das Klimpern begonnen hatte, hörte es wieder auf.
    Verdammt! Niall hätte sich für seine Dummheit am liebsten geohrfeigt. Ohne Landkarte hier herumzustolpern war auch einfach bescheuert. Wenn es wirklich Zauberer gab, dann erkannten sie sofort, wenn sich ein tollpatschiger Amateurdetektiv ihrem Versteck näherte. Er lief an ein paar Birken vorbei, die das erste schwache Licht der Morgendämmerung reflektierten. Der Wald erwachte, bis auf einen dunklen Fleck in einem Tal hinter einem kaum fünfzig Meter entfernten Überhang. Niall überlegte, wohin er jetzt gehen sollte. Dabei fiel ihm zum ersten Mal etwas auf, das er bisher nicht bemerkt hatte.
    Er hatte im Wald noch nicht einmal das Räuspern einer Maus gehört. Weder den Flügelschlag eines Eichelhähers noch das Scharren eines erschreckten Dachses. Es war, als warteten alle Kreaturen darauf, dass Niall das fand, was er offensichtlich suchte.
    Oder darauf, dass es mich findet, dachte er und schlug sich weiter durch das Gestrüpp. Die Anemonen, die vorher so mutig und zahlreich gewesen waren, wuchsen hier spärlicher und waren bald verschwunden. Wahrscheinlich kommt diese Angst nicht aus meinem Geist, sondern ist ein biologischer Instinkt, dachte er. Es war, wie er sich später erinnern sollte, als wüssten diese Blumen, was dort unten außer Sichtweite im Tal wartete. Wir haben dich bis hierher geleitet, schienen sie zu sagen. Aber selbst wir wagen es nicht, dir weiter den Weg zu erleuchten.
    Er bewegte sich langsam auf den Abgrund zu, bis die Spitzen seiner schmutzigen Stiefel in die Luft traten. Unter ihm kräuselten sich dünne Rauchschwaden in der Luft und wetteiferten darum, wer die tiefhängenden Wolken als Erstes erreichen würde. Niall sah weder einen Kamin noch ein Dach,

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