Darling Jim
bildeten. Niall hatte erst einmal von einer Frau gehört, die gleichzeitig so blass und so sexy gewesen war, und sie war ein fiktiver Charakter gewesen.
Ihr Name war Prinzessin Aisling. Ein Wolf hatte sie geliebt und danach getötet.
»Ich bin hier«, rief Ned, und Niall folgte ihm. Dies war der kleinste Raum des Hauses, und hier verbrachte der einzige Bewohner offenbar einen Großteil seiner Zeit. Ausgestopfte Eulen starrten blicklos auf die Glasglocken, in denen sie gefangen waren. Auch ein paar Raben und Falken waren zu erkennen, aber Niall achtete nicht auf sie. Denn die Wölfe, die auf Bildern posierten und sich als Tonfiguren aufbäumten, dominierten alles. Es gab sogar einen echten Wolfskopf, der über dem Türrahmen hing. Sein Kiefer war so weit aufgerissen wie irgend möglich, ohne den Unterkiefer aus dem Schädel zu reißen. Es sah aus, als habe das Tier immer noch Schmerzen und versuche, sich den Weg in die Freiheit herbeizuheulen, wie es auch Prinz Euan einst versucht hatte. Aber dieser Wolf war nicht entkommen. Das einzige Geräusch im Zimmer war ein elektronisches Signal, das Niall nicht genau orten konnte. Alle zehn Sekunden ertönte ein einzelner Piepslaut, wie von einem langsamen Metronom.
»Wann hat dein Bruder das hier alles aufgehängt?«, fragte Niall und wählte den Stuhl, der am weitesten von Ned entfernt war. Er fragte sich, ob er noch genug Kraft haben würde, sich zu wehren, falls dieser launische Klavierspieler beschließen sollte, ihn vor dem nächsten Solo kaltzumachen.
»Die habe ich aufgehängt«, sagte Ned, lehnte sich zurück und starrte den Wolfskopf an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Er zündete eine Zigarette an und wedelte mit ihr herum. »Ich habe Jim alles über Tiere beigebracht. Pferde, Falken, Hasen und Rehe. Wie man sie reitet und wie man sie tötet. Und ja, auch Wölfe. Wir mussten bis nach Kirgisien gehen, um unseren alten Freund hier zu finden. Wir nennen ihn Freddie.« Er winkte dem ausgestopften Schädel zu. »Begrüß den netten Mann, Freddie!«
Niall hätte sich am liebsten übergeben. Das Piepen erklang erneut. Diesmal klang es näher.
»Unsere Eltern haben dieses Haus nie benutzt, als mein Vater noch lebte«, erklärte Ned und rückte ein Ölgemälde im Goldrahmen zurecht, das einen älteren Mann neben einem Hirschen zeigte, den er offenbar gerade erlegt hatte. »Aber nach Vaters Tod fand Mutter die Dubliner Luft erdrückend, also zogen wir hierher.« Der gelähmte Prinz klang beinahe nostalgisch. Einen Moment lang hatte er vergessen, sich abzuschirmen. »Sie versuchte, uns hier ein richtiges Heim zu geben, komplett mit Reitstunden und Tischgebeten zum Abendbrot. Natürlich langweilten wir uns bald trotzdem fast zu Tode, kann ich dir sagen. Und kein Geld der Welt macht so unvernünftig wie geerbtes.«
»Das ist ein sehr schönes Haus«, sagte Niall in neutralem Ton, seine Furcht wuchs wieder. Der Hirsch auf dem Bild streckte die blutige Schnauze in Richtung des Betrachters, sein knorriges Geweih reckte sich wie eine bittende Hand zum dunklen Himmel.
»Du wolltest mir noch etwas zeigen, stimmt's?«, fragte sein Gastgeber mit der Ungeduld, die jenen eigen ist, die toten Trophäen Namen geben, die eigentlich besser zu Kindern passen.
»Hier«, sagte Niall und hielt ihm Jims Landkarte entgegen, als habe er Angst, sie werde zu Staub zerfallen, bevor er sie überreichen konnte. »Dein Bruder hat sich eine Karte der Geschichte gezeichnet, die in seinem Kopf steckte und die er im ganzen Land erzählte. Schau her. Erkennst du es? Das bist du, glaube ich. Mit den Wellen, die aus deinen ... «
»Fingerspitzen dringen. Ja«, sagte der ungeduldige Zauberer, der plötzlich dicht neben seinem Gast saß und die ungelenke Zeichnung so gebannt betrachtete, als wären sie zwei Jungen, die eine seltene Briefmarke in einer Glasvitrine bewundern. Er faltete die Landkarte vorsichtig zusammen und drückte einen Knopf auf der ledernen Armlehne seines Gefährts. Absätze klapperten auf dem Parkett, und ein Butler, den Niall bisher noch nicht gesehen hatte, steckte unaufdringlich den Kopf durch den Türspalt.
»Mr. O.?«
»Sam, würdest du das in einen hübschen Rahmen stecken?
Nichts Auffälliges, die Zeichnung ist hier das Wichtigste. Guter Mann.«
»Sofort, Sir.« Der Butler nahm die Reliquie und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Piep!
Niall sah an Neds nutzlosen Beinen vorbei auf einen massigen Kasten, der mit einem grünen Filztuch bedeckt war. Er hatte es
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