Darling Jim
Bruder tötet und dafür in einen Wolf verwandelt wird? Hab sie über Funk gehört. Aber du hast sie nicht richtig verstanden. Das geht allen so.« Auf dem Flur erklangen Schritte. Theo. Oder Otto. Oder vielleicht beide. »Ich habe Jim von hier weggeschickt, ist das klar?« Er legte die geballten Fäuste auf seine toten Beine. »Und diese beiden Brotlaibe verdanke ich nicht ihm. Ich wurde so geboren. Er hat mich nicht unter meinem Pferd zurückgelas- sen, das ist nur eine Projektion. Ich habe Jim beigebracht, wie man mit Frauen redet, was sie im Bett gern haben und so weiter. Er ging allerdings ein bisschen zu ... «
Es klopfte an der Tür. »Moment«, rief Ned und starrte Niall an. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sein Zauber glich nun Jim aufs Haar, gelähmte Beine oder nicht. Er hätte jede Geschichte der Welt erzählen können, und Niall wäre nie auf die Idee gekommen, er könne lügen. »Eines Tages fand ich ihn mit unserer großen Schwester Aisling. Es war, glaube ich, im Spätsommer. Sie lagen im Bett, und ich sage dir, sie spielten nicht Skat. Unser Vater schickte sie in ein Internat in der Schweiz, und das alte Mädchen hat die Sache nie ganz verkraftet. Sie haute vor dem Abitur ab und ließ sich mit einem französischen Punkrocker ein, der ihr zeigte, was man mit Nadeln alles machen kann. Sie ist hinter dem Haus begraben. Willst du den Grabstein sehen? Er ist ziemlich geschmackvoll, sieht genau aus wie derjenige, den ich für Jim in dieser elenden kleinen Stadt aufstellen ließ. Wie hieß sie noch? Castledon ... Castle-irgendwas?«
»Nein danke«, sagte Niall. »Und ich würde jetzt gerne gehen.« »Wirklich?«, fragte Ned mit gespieltem Erstaunen. »Aber du weißt mehr über meinen Bruder als sonst jemand. Es gibt noch so viel zu erzählen, warum sollte ich dich also gehen lassen? Nenne mir nur einen guten Grund.«
Nialls Hände suchten nach dem Messer, aber dann fiel ihm ein, dass er es nicht mehr besaß. Der Wolfsschädel grinste ihn an, als freue er sich, dass er auch ausgestopft noch ein Beutetier reißen durfte. »Weil du nachts wach liegst und dich fragst, ob du vielleicht die wahre Bestie bist«, sagte er, stand auf und öffnete die Tür. Er blickte direkt in Ottos kalte Fischaugen. »Und wenn ich hier unverletzt rausgehe, dann schlägt der Zeiger zu deinen Gunsten aus. Wenigstens heute.«
Der Transceiver hinter ihm piepte noch einmal schwach, als stimme er ihm zu. Ned nickte Otto zu und lächelte. Er wirkte erleichtert. »Otto, würdest du unseren neuen Freund nach Hause fahren, egal, wo das sein mag?« Er drehte sich zu Niall um und nickte, als habe er einen würdigen Gegner gefunden. Die Tätowierung mit den Zwillingen blitzte kurz unter seinem Hemdsärmel auf. »Du hättest gut zu meinen Wachleuten gepasst«, sagte er. »Wo hat man dich ausgebildet?«
»Ich war mal Briefträger«, sagte Niall achselzuckend. »Aber ich wurde gefeuert.«
»Perfekt! Ein Betrüger, der in der Maske eines Beamten operiert. Du bist mit einem Bluff hier reingekommen und durch geschickte Manipulation meiner Schuldgefühle wieder hinaus. Du wärest ein guter Gauner geworden, da würde mein Bruder mir sicherlich zustimmen.« Ned beugte sich in seinem mobilen Gefängnis vor und schenkte Niall ein Wolfsgrinsen, das dieser nie vergessen würde. »Wir sind keine schlechten Menschen, also steck dir dein herablassendes Lächeln dahin, wo die Sonne niemals scheint. Und sei so klug, dich hier nie wieder blicken zu lassen.«
Niall sah aus dem Rückfenster des Rolls-Royce, der ihn lautlos zu seinem Apartment in Ballymun zurücktragen würde. Das schwarze Tor des Zauberers schloss sich hinter ihm. Alle Familiengeheimnisse, die sich noch dahinter verbargen, würden nie ans Tageslicht gelangen.
Die Waldanemonen wendeten ihre Blütenblätter von der Straße ab und wagten erst wieder aufzublicken, als das Auto längst verschwunden war.
NACHSPIEL DER RITTERSCHLAG
XXIV.
Es stimmt wirklich, dachte Niall, als er Oscar bei den Studentinnen von gegenüber abholte. Egal, ob man eine Katze eine Minute oder ein Jahrzehnt allein lässt, sie schaut dich an, als würde sie es dir nie verzeihen.
Seine Wohnung sah genauso aus, wie er sie hinterlassen hatte, allerdings lag eine dünne, graue Staubschicht auf allem. Oscar machte sich einen Spaß daraus, sie aufzuwirbeln. Der Briefkasten in der Lobby unten war voller Post, hauptsächlich Mahnungen von seiner leidgeprüften Bank, seinem Fitnessstudio und der Kunstakademie, der er
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