Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
und die Menschheit wäre wieder allein auf ursprüngliche Naturprodukte angewiesen, sie fiele sofort auf ihr Steinzeitniveau zurück. So gut wie nichts von dem, was wir zu uns nehmen, nicht einmal kontrollierte Bionahrung, ist »natürlich« in dem Sinn, dass seine Grundprodukte auch in der freien Natur vorkommen - außer ein paar
gesammelten Pilzen, Waldbeeren, etwas Wild sowie Meeres-»Früchten« und, als weitaus größter Posten, Fischen.
Es gab Zeiten, bis nach 1960, da hielten Fachleute den Fischreichtum der Meere für unerschöpflich. Die weltweite Fangmenge hat sich zwischen 1850 und 1950 von zwei auf zwanzig Millionen Tonnen verzehnfacht, um sich in den folgenden beiden Jahrzehnten jeweils noch einmal zu verdoppeln. Irgendwann stößt das System jedoch an seine natürlichen Grenzen, der Nachwuchs der Fische hält dem Wachstum der Nachfrage nicht mehr stand. Knappheit verdirbt Preise, mehr Ertrag lohnt mehr Aufwand, immer effektivere (und brutalere) Techniken kommen zum Einsatz. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts sinkt der Weltbestand von fischreich auf überfischt bis fast leer gefischt.
Die Antwort heißt seit zehntausend Jahren Technologie, in diesem Fall Aquakultur. Es beginnt um 1980 mit Lachsen in Norwegen und Riesengarnelen in Thailand und jährlichen Wachstumsraten im zweistelligen Bereich. Heute stammt bereits etwa ein Drittel aller Speisefische und anderer essbarer Wassertiere aus der Kultur. Das systematische Mästen erfordert Kunstfutter und -dünger, Antibiotika und Hormone. So übersetzt sich gesteigerte Produktion in zunehmende Umweltbelastung und Bedrohung natürlicher Ökosysteme. Auf Dauer wird die maritime Massentierhaltung mehr und mehr auf abgeschlossene Systeme umsteigen müssen. Bleibt wie bei jeder industriellen Tierzucht das Abwasserproblem. In Norwegen etwa produzieren rund sechshundert Lachsfarmen die gleiche Menge wie die gut vier Millionen Einwohner.
Erst seit der Jungwuchs für die Farmen aus Brutanstalten mit künstlicher Befruchtung und labortechnischer Aufzucht kommt, richten klassische Züchtungsforscher wie Martin Hevia ihr Augenmerk auch auf den Fisch. Nur die wenigsten Arten lassen sich einfach mästen. Also sollen wie einst Schafe oder Kühe nun Fische zu »Haustieren« gezüchtet werden. »Das Problem beim Fisch ist der Schwarm«, erklärt der Meeresbiologe. »Die Tiere lassen sich in ihren Variationen äußerlich kaum unterscheiden.« Also wird durch Mikroelektronik nachgeholfen. Jedes Jungtier bekommt einen Chip implantiert und damit eine individuelle Kennung. Dadurch wird etwas möglich, das sich vorher praktisch ausschloss: die Selektion. So wiederholen sich derzeit im Schnellverfahren an den »domestizierten« Fischen alle
Erfahrungen, die in Tausenden Jahren an anderen Tieren gemacht wurden.
»Da gibt es tausend Dinge, die man machen kann«, sagt Hevia. Da werden Tiere einzeln mit eigens entwickelten hochaktiven Impfstoffen behandelt. Oder von Unterwasser-Videokameras beim Fressen beobachtet. »Wir wissen, wie jeder Einzelne wächst, und wir kennen genau seine Eltern.« Da tasten Laserstrahlen Filetgrößen ab. Da wird auf besonders weiche Qualitäten für Fish-Burger geachtet. Da gibt es Lachs-Arten aus schottischen Flüssen überhaupt nur noch in chilenischem Gewahrsam.
In den Becken findet jedoch auch ohne menschlichen Eingriff ständig Selektion statt: Die Natur sortiert diejenigen aus, die unter den Zuchtbedingungen nicht gedeihen können. Eine anfängliche Sterblichkeit von »nur« fünfundneunzig Prozent wird als Erfolg bewertet. Seine Corvina, eine pazifische Art, hat Züchter Hevia inzwischen »auf vierzig Prozent gedrückt«. Bei Lachsen überleben sogar acht bis neun von zehn. Wie auch bei anderen Zuchttieren wird die Quote sich immer weiter dem hundertprozentigen Überleben nähern. In fünfzig Jahren, schätzt Hevia, werden sich nur noch wenige Menschen »wilden« Fisch leisten können. Die Massenware wird wie beim übrigen Fleisch aus industrieller Produktion gezüchteter Rassen stammen.
Ohne Zucht gäbe es keine Zivilisation, und ohne ihr Vorbild keine Evolutionstheorie. Bereits wenige Monate nach seiner Rückkehr, ein paar Seiten nach der Notiz über die zwei Laufvogelarten in Argentinien, schreibt Darwin ein wenig kryptisch im typisch atemlosen Stakkato seine Gedanken ins geheime Rote Notizbuch: Hunde. Katzen. Pferde. Rinder. Esel. sind alle wild gewesen und gezüchtet. zweifellos mit perfektem Erfolg. - zeigt Nicht-Schöpfung wirkt
Weitere Kostenlose Bücher