Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
wie ein Affe. Wer das sagt, beleidigt ihn.«
Sydney verfolgt das alles stumm und wach. Doch als das Dorf hinter uns liegt, ist er nicht mehr zu halten. Er will jetzt alles wissen. Wer dieser Darwin sei, dem ich da hinterherreiste, und was es mit der gemeinsamen Abstammung und der Bibel auf sich habe. Ich bleibe stehen, breche einen Zweig ab und zeichne nicht zum letzten Mal auf meiner Reise mit Strichen in den feinen Staub am Wegesrand einen Baum, der sich immer weiter verzweigt. »Alle Lebewesen haben einen gemeinsamen Ursprung. Wir sind alle miteinander verwandt. Unsere Stammbäume bilden zusammen den Baum des Lebens.«
Der Junge lauscht aufmerksam. Dass alle Lebewesen sich fortpflanzen und dazu neigen, möglichst viele Nachkommen hervorzubringen, ist ihm nicht unbekannt. Neun Geschwister habe er, sagt Sydney. Dass sich alle Nachkommen voneinander unterscheiden, weil sich in jedem Kind aufs Neue die Erbanlagen der Eltern mischen, muss ihm auch niemand erklären.
Geduldig lässt er sich berichten, dass Darwin als Erster die Vielfalt irdischen Lebens einschließlich des Menschen auf natürliche Weise verstanden habe. Dass bei einem Überschuss an Nachkommen im Durchschnitt eher diejenigen selbst wieder Nachwuchs hervorbrächten, die besser an die Umwelt angepasst seien. Dass sich dabei vorteilhafte
Eigenschaften durchsetzten und von Generation zu Generation ausbreiteten, ohne dass es dazu göttlicher Eingriffe bedürfe. Dass sich damit ganze Arten von Lebewesen allmählich an äußere Bedingungen anpassen und weiterentwickeln könnten.
In keinem Moment macht Sydney den Eindruck, als ob er etwas nicht verstehe. Wissbegierig saugt er alles auf, was er hört, wiederholt manche Punkte, stellt kluge Zwischenfragen, findet selbst Beispiele. Und doch habe ich das Gefühl, dass er nicht bekommt, was er will. Irgendetwas arbeitet in ihm, ohne dass er es ausspricht. Er macht es wie Darwin: Er vergleicht und sucht seinen Platz im Weltbild, das Darwin entworfen hat. Instinktiv spürt er die Widersprüche auf. Als wir uns trennen, sagt er: »Ich möchte dich in mein Haus einladen und meiner Mutter vorstellen.«
Wie hätte ich Nein sagen können? Somit erlaube ich mir wenige Tage nach meiner ersten Landung etwas, das zum Element meiner gesamten Reise werden soll: Ich gebe Plan und Zufall die gleiche Chance, folge Kopf und Bauch, bleibe auf Darwins Spur, verlasse aber seinen Weg und begebe mich an die Westküste der Insel São Tiago, wo er nie war. Mich reizt die still fermentierende Fantasie dieses Jungen.
Sydneys »Haus« befindet sich in Ribeira da Barca, direkt unten am kleinen Kiesstrand, wo die Fischer ihre bunten Boote liegen haben. Aufgerissene Kopfsteinpflastergassen, heruntergekommene Kolonialbauten und kleine schattige Parks erzählen die gar nicht so ferne Geschichte eines Landes, das erst 1975, nach dem Ende der Militärdiktatur in Portugal, seine Unabhängigkeit erlangt hat.
Vier Wände aus Betonsteinen, nur innen verputzt, eine Eingangstür, über der außen ein Kreuz hängt, und ein Fenster, durch das die Brise weht. Draußen hat Sydney in großen hellblauen Buchstaben seinen Namen auf die Fassade gemalt, nachdem sein Vater die Familie wegen einer anderen Frau verlassen hat. Drinnen in der Mitte ein runder, mit weißer Spitze gedeckter Tisch.
An der hellblau gestrichenen Wand Sammelrahmen mit Familienfotos, keines zeigt den Erzeuger der Kinder. Dazu zwei dunkle Nebengelasse hinter Vorhängen, in einem die Toilette, im anderen Matratzen: Das ist der Raum, in dem es Sydneys Mutter gelingt, sich selbst und sieben ihrer zehn Kinder ein behagliches Heim zu schaffen.
»Grogue oder Ponche?«, fragt sie. Beides hebt sie in Plastikflaschen auf. Ich probiere den Punsch. Jede Familie hat ihr eigenes Rezept. Ihrer schmeckt besonders fruchtig. Auf die Schnelle bereitet sie eine kleine Mahlzeit zu, frischer Fisch, gebraten, mit Gemüse und Kartoffeln.
Kein Geld für die höhere Schule, erklärt sie, ihr Junge müsse sich alles selber beibringen. Liest alles, was er in die Hände kriegt, wartet, bis im Fernsehen Englisch gesprochen wird, spricht Sätze nach, die er nicht schreiben kann. Geistig steht Sydney mir näher als viele meiner Landsleute. Wir beide sind Kinder der gleichen Biologie, aber nicht der gleichen Kultur. Hätten wir bei der Geburt die Rollen getauscht, dann säße ich jetzt an diesem Tisch und fragte ihn über seinen Werdegang und sein Leben aus.
Sydney zögert eine Weile, als habe er Angst, eine
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