Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
entpuppt sich weniger als Datenbank denn als dynamisches Verarbeitungssystem. Mutationen von Erbanlagen, einst als Königsweg der Evolution angesehen, spielen heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Nicht der Besitz biochemischer Werkzeuge steht an erster Stelle, sondern deren Einsatz. Der Kampf ums Dasein findet auf der Ebene regulativer Netzwerke statt. Bei allem Respekt vor Darwin sprechen Wissenschaftler
bereits vom »Postdarwinismus«. Das Rad der Wissenschaftsgeschichte hat sich eine Runde weitergedreht.
Die molekulare Mikrowelt spiegelt in ihrer Vielfalt das Leben selber wider. Erste entsprechende Erkenntnisse gehen auf eine Zeit zurück, als die Doppelhelix der DNA noch nicht entdeckt war. Die amerikanische Biologin Barbara McClintock stellt 1947 eine visionäre These auf, die auf ihre genetischen Arbeiten mit Maiskolben zurückgeht. Sie erkennt allein an der Verteilung der Maiskörner am Kolben, dass sich Teile von Chromosomen aus ihrer Position im Erbgut herausschneiden und an anderer Stelle wieder einfügen. Mehr als zwei Jahrzehnte muss sie sich für die Entdeckung der »Springenden Gene« belächeln lassen. Erst sechsunddreißig Jahre nach ihrer genialen Einsicht erhält sie als alte Frau 1983 endlich den verdienten Nobelpreis.
Bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts herrscht das eher statische Bild von Genen vor, die wie Perlen auf Ketten hintereinander liegen. Barbara McClintock nimmt eine Entwicklung vorweg, ohne die weder Genom noch Evolution verständlich wären. Springende Gene oder »Transposons« liefern der natürlichen Auslese um Größenordnungen mehr »Spielmaterial« als Mutationen. Sie könnten, wie sich an Mäusen zeigen ließ, für die Bildung neuer Spezies entscheidend sein. Damit wird erstmals klar, dass die Evolution neben der Veränderung von Genen durch »Lesefehler« über weitere wirksame Systeme verfügt, sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Die menschliche DNA besteht zu 45 Prozent aus »transponablen Elementen«. Wissenschaftler vermuten inzwischen, dass sich der Hauptunterschied zwischen verwandten Spezies nicht an der Größe des Genoms, sondern am Anteil dieser Elemente festmachen lässt.
Eine weitere Quelle evolutionärer Neuerung über einfache Mutationen hinaus ist die Verdopplung oder Vervielfachung von Genen. Liegt eine Erbanlage in mehreren Kopien vor, so kann sich die eine verändern, ohne den Organismus zu gefährden, solange die andere konstant bleibt und ihre Aufgabe erfüllt. Kürzlich sind Wissenschaftler auf tausendfünfhundert Abschnitte im Erbgut gestoßen, deren Kopienzahl sich von Mensch zu Mensch unterscheidet. Manche liegen auf den Chromosomen direkt hintereinander, andere an völlig unterschiedlichen Stellen im Genom. Etliche Hundert Gene sind davon betroffen. Inzwischen weisen immer mehr Daten darauf hin, dass die
Genverdopplung wesentlich zur Entwicklung des menschlichen Gehirns beigetragen hat.
Von der Anzahl der Kopien kann auch der Umgang mit Krankheitserregern abhängen. Je mehr Kopien des Gens für einen »CCL3L1« genannten Eiweißstoff eine Person besitzt, desto widerstandsfähiger ist sie gegen HIV. Manche wirkungslos gewordenen Gene, die sich nach Verdopplung gebildet haben, werden im Erbgut überdies als »Pseudogene« aufbewahrt. Ein Teil des Geruchssystems, das in Nagetieren noch arbeitet, bei uns aber nicht mehr, geht auf stillgelegte Pseudogene zurück. Was es mit diesem »dunklen Genom« genau auf sich hat, ist noch nicht ganz geklärt. Zumindest in Hefen hat sich nachweisen lassen, dass sie unter Stress Pseudogene reaktivieren können. Statt also auf Gedeih und Verderb auf das angewiesen zu sein, was sie gerade braucht, hält die Evolution sich zahlreiche Reserven bereit.
Vermutlich hat sich während der Evolution auch das gesamte Genom mehrfach verdoppelt, mindestens dreimal seit Beginn der Wirbeltiere. Dadurch lassen sich Sprünge im evolutionären Fortschritt noch besser verstehen. Doch nicht allein die Größe eines Genoms ist entscheidend, sondern die Art und Weise, wie Gene verwendet werden und zusammenarbeiten. Dank eines von Zellen eingesetzten Verfahrens, »Splicing« genannt, kann ihre Maschinerie denselben Abschnitt auf viele unterschiedliche Weisen »lesen«. Bei der Fruchtfliege sind mehrere Tausend unterschiedliche Eiweiße entdeckt worden, die alle von einem Gen stammen. Beim Menschen werden bis zu sechzig Prozent der Gene diesem Typus zugerechnet.
Nicht alle DNA stammt indes aus »eigener«
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