Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
an die »Mundo Yámana«. Hier sind es keine Handabdrücke, die eine Vergangenheit lebendig werden lassen, sondern alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer Welt, wie Darwin sie gesehen hat. Zu verdanken haben wir die einzigen Bilder vom Leben der Kanunomaden einer französischen Forschungsexpedition, die sich in den Jahren 1882 und 1883 im Vorhof der Antarktis aufhielt.
Diese Fotos brennen sich ins Gedächtnis - nicht nur, weil Darwin anhand solcher Anblicke sein Menschenbild geformt hat. Kauernde Nackte, scheu unter ihre halb offene Behausung aus Ästen und Erde geduckt, oder in ihrem Kanu, dem einzigen Besitz einer Familie, in dessen Mitte ein kleines Feuer brennt. Eine Gruppe Mädchen und
junger Frauen in der Hocke, bitterernst. Und auf einem etwas späteren Foto, mit zwei Uniformierten im Hintergrund, fünf Kinder um eine Pfütze, aus der sie Wasser trinken wie Kätzchen aus einem Napf.
Ich muss sehr lange vor den Bildern verharrt haben. Etliche Touristengruppen haben sich schon vorbeigeschoben, da stellt sich eine kleine Frau neben mich, um die fünfzig, und sagt: »Sie scheinen sich sehr für uns zu interessieren.« - »Uns? Gibt es denn noch lebende Nachfahren?« - »Wenn man die Mischlinge mitzählt, sind wir noch rund hundert.« - »Und wenn man die Mischlinge nicht mitzählt?« - »Dann gibt es genau noch eine.« - »Eine?« - »Sie heißt Cristina Calderón und ist achtundsiebzig Jahre alt.« - »Wo finde ich diese Señora?« - »Sie lebt wie die meisten von uns in Puerto Williams auf der anderen Seite des Beagle-Kanals in Chile. Aber Sie haben Glück. Morgen kommt sie nach Ushuaia.«
Am nächsten Vormittag darf ich die »hermana mayor«, die höchste Schwester, unter ihresgleichen begrüßen. Ein Grüppchen von nicht einmal zwanzig durchweg jüngeren Leuten, Abkömmlingen verschiedener Stämme, hat sich am Rande der Stadt an einer Zeremonienstätte um ein kleines Feuer versammelt, dem Symbol ihrer Kultur. Die meisten tragen billige Anoraks und Trainingshosen. Sie reichen Schalen herum, aus denen sie eine Art Limonade trinken, die nach Hefe schmeckt. Ein Handy klingelt. Zwei Jungen spielen sich einen Fußball zu. Eine Gruppe Jogger läuft vorbei.
Cristina Calderón steht etwas verloren in dem Kreis. Die kleine Frau trägt eine Strickjacke mit indianischen Ornamenten, Sternen und Lamas, die mit der Kultur ihrer Vorfahren nur wenig zu tun haben. Ihr graues Haar hat sie zusammengebunden. Auf ihrer breiten Nase sitzt eine große runde Brille mit dicken Gläsern. Dahinter schauen kleine wache Augen in irgendeine Ferne, die es nicht mehr gibt. »Upulú« haben ihre Vorfahren zur Zukunft gesagt. Sie hat das Wort vergessen.
Seltsame Ergriffenheit, einer letzten »Reinrassigen« gegenüberzustehen. Da geht etwas zu Ende, das kommt nie wieder. Aber was heißt eigentlich »reinrassig«? Gibt es so etwas bei Menschen überhaupt? Leben sie nicht fort in den Gesichtszügen der Menschen in Argentinien oder Chile, die mehrheitlich gemischtes Blut in ihren Adern
wissen? Genau wie Engländer, Deutsche oder Spanier, die aus vielen Völkern hervorgegangen sind? Wäre eine Menschheit ohne Rassen oder scharfe Rassengrenzen nicht ohnehin viel besser dran? Solche und viele andere Gedanken müssen den Geist eines jeden beschäftigen, der einen dieser armen Wilden sieht. Darwin hat sie wohl nie gedacht.
Lange kann die alte Dame nicht stehen. Sie nimmt auf einer Bank Platz, während eine Art Priesterin in modisch-indianischem Ornat schamanische Rituale vollzieht und die anderen zu Trommelschlägen die Feuerstelle umkreisen. Das Ritual zur Kraftverstärkung wirkt wie ein Abgesang. Das Ganze passiert ohne Zuschauer bei ausnahmsweise trockenem Wetter vor der Kulisse schneebedeckter Berge. Dazwischen die schnell wachsende Stadt, Baukräne, Neubauten, immer mehr Hotels und Restaurants für die zunehmende Menge zahlungskräftiger Touristen, die von hier aus in die Antarktis aufbrechen.
»Wie geht es Ihnen?« - »Mein Mann ist krank.« - »Und Sie selbst?« - »Wenn mein Mann krank ist, bin ich auch krank.« - »Was bedeutet es, die Letzte einer ganzen Linie zu sein?« - »Ich denke, das Thema meines Lebens.« - »Und das heißt?« - »Dass mein Leben spricht.« - »Haben Sie eine Botschaft für die, die nach Ihnen kommen?« - Schulterzucken. »Oder nein, warten Sie. Schreiben Sie auf: Die Weisheit ist unsterblich.«
Als die Beagle das Land der Yámana erreicht, kann Teil zwei von FitzRoys Experiment beginnen: Die Umerzogenen werden
Weitere Kostenlose Bücher