Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
ausgeprägte Gabe zu imitieren. Diese angeborene Fähigkeit macht kleine Kinder zu jenen Nachahmungskünstlern, die den Ratschen-Effekt erst ermöglichen. Zum Beleg wartet Tomasello mit einer verblüffenden Erkenntnis auf: Nicht Affen seien die besten Nachäffer, sie haben damit im Gegenteil große Mühe, sondern Menschenkinder.
Er weist auf einen entscheidenden Unterschied im Verhalten zwischen uns und unseren nächsten Verwandten hin: Im Alter von neun Monaten beginnen Kinder, auf Dinge zu deuten. Menschenaffen tun das nie. Das Dreieck, das Kinder auf diese Weise zwischen sich und ihrem Gegenüber konstruieren, dem sie etwas oder jemanden zeigen, und dem Ding oder der Person, auf die sie ihren Finger richten, dieses Dreieck sei einer der Grundsteine von Kultur, glaubt der Psychologe. Seit ein paar Jahren häufen sich in der Hirnforschung Entdeckungen sogenannter Spiegelneuronen als mögliche Vermittler von Empathie und Imitation - ich kann mich leichter in das einfühlen, was ich vorher bei einem anderen mitgefühlt habe.
Kommunikation schafft Tradition, die Weitergabe kultureller Errungenschaften. Schon an dieser Stelle beginnen sich, zunächst rudimentär, kulturelle und biologische Evolution zu trennen - und zu ergänzen. Die Gruppe, die zuerst für sich beanspruchen kann, eine neue Technik gefunden zu haben, wird der anderen überlegen, ohne »biologisch« über ihr zu stehen. Es gibt keine Erbanlage für die Zähmung des Feuers. Andrerseits greift die Biologie wieder ein, wenn sich durch natürliche Auslese der Heureka-Faktor erhöht. Nur so hat sich die Menschheit in evolutionär relativ kurzer Zeit in ihre schwindelerregenden Höhen katapultieren können.
Und das hat sie angesichts der Komplexität und ständigen Neuerungen
bis jetzt mit erstaunlicher Stabilität getan. Auch wenn das menschliche Miteinander oft das Gegenteil vermuten lässt, im alltäglichen Zusammenspiel funktioniert es fast so perfekt wie die Systeme auf den nächsttieferen Organisationsstufen. Das Leben besteht geradezu aus Einheiten, die nur gemeinsam existieren können. Jedes Teil dient dem Ganzen wie nach einem geheimen Plan. Alle unterwerfen sich einer Macht, und diese Macht ist ihre Gemeinschaft.
Ameisen beispielsweise sind mehr als nur Staaten bildende Insekten. Sie sind Teil des Staates, der neue Staaten gebiert. Sie können überhaupt nur als Volk existieren, in dem das Konzept einer selbständigen freien Ameise nicht vorgesehen ist. Auch die Menschen sind auf diesem Weg schon ein gutes Stück vorangekommen. Das Ganze folgt einer Hierarchie, die genau den Entwicklungsstufen des Lebens entspricht: Moleküle unterwerfen sich der Zelle, die Zellen Geweben und Organen, die ihrerseits dem Organismus und der wiederum seiner Gemeinschaft. In (fast) jedem Augenblick unseres Lebens arbeiten, je nach Körpergewicht, bis zu hundert Billionen Zellen störungsfrei zusammen. Hinter alledem steckt eine Erscheinung, die das Abenteuer des Lebens überhaupt erst möglich gemacht hat: die »Emergenz«. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Eine extreme Form der Zusammenarbeit hat die amerikanische Biologin Lynn Margulis 1967 beschrieben - vom Magazin »Science« vor Kurzem als »einer der größten Erfolge der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts« gefeiert: die Symbiose von Organismen durch Verschmelzen oder Einverleiben. Margulis fragte sich, warum lebenswichtige Bestandteile von Pflanzen- und Tierzellen Erbanlagen besitzen, die unabhängig von den Genen der übrigen Zelle weitervererbt werden. Ihre zunächst heftig bekämpfte, inzwischen allgemein anerkannte »Endosymbionten-Theorie« hat für die Biologie eine ähnliche Bedeutung wie die Kontinentalverschiebung Alfred Wegeners für die Geologie: Heute zweifelt niemand mehr daran, dass bestimmte Organelle in Tier- und Pflanzenzellen einmal Bakterien waren.
Drei große Verschmelzungsereignisse in der Geschichte des Lebens hat Margulis ausgemacht. Durch sie sei »das wahrhaft Neue« in der Evolution entstanden. An der Grenze zwischen Archaikum und Proterozoikum, vor grob geschätzt zwei bis zweieinhalb Milliarden Jahren,
taten sich wandlose Archaen mit schwimmenden Eubakterien zusammen. Daraus bildeten sich die ersten Zellen mit Kern, die Eukaryonten. Einige von ihnen vereinigten sich in einem zweiten Schritt vor einer Milliarde Jahren mit Sauerstoff atmenden Bakterien, aus denen im Zellinnern Mitochondrien wurden. Mithilfe dieser oft mit Kraftwerken verglichenen Organelle können
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