Darwin und die Götter der Scheibenwelt
überzeugend, als ob das Kupieren von Terrierschwänzen dazu führen würde, dass die Welpen gleich mit kurzen Schwänzen geboren werden. In Wahrheit ist es jedoch eine Lektion, dass man nicht versuchen sollte, Dinge ›auf den ersten Blick‹ zu erklären, wie es die Naturschützer mit den abnormen Fröschen getan haben.
Es ist sehr verlockend, ebendies zu tun, wenn man die Vorstellung im Kopf hat, ein Gen führe zu einem Charakteristikum, sodass man zusammen mit dem Charakteristikum das Gen hat und umgekehrt. Zahlen aus der epidemologischen Literatur besagen, dass im Zeitraum von wenigen Jahren um 1960 etwa vier Millionen Frauen in der kritischen Zeit um den Eisprung Thalidomid eingenommen haben. Davon waren etwa 15 000 bis 18 000 Föten geschädigt, 12 000 wurden mit Defekten geboren, und etwa 8000 überlebten das erste Jahr. Das heißt, der natürliche Entwicklungsverlauf hat nur 1 von 500 ausgewählt , der schädliche Wirkungen zeigte. Der Anteil der ohne festzustellende Schäden geborenen Kinder war viel, viel größer. Und diese Tatsache ändert unser Bild von der wahrscheinlichen Ursache, deretwegen die Kinder zweier thalidomidgeschädigter Eltern an Phokomelie leiden, und zwar auf folgendem Grund:
Conrad Waddington hat ein Phänomen dargelegt, das er ›genetische Assimilation‹ nannte. Er begann mit einer genetisch vielfältigen Population wilder Fruchtfliegen und stellte fest, dass etwa eine von 15 000 ihrer Puppen nach Erwärmung eine Fliege hervorbrachte, deren Flügel keine Kreuzäderung aufwiesen. Diese ›kreuzäderungslosen‹ Fliegen sahen genauso aus wie manche sehr seltenen Fliegenmutanten, die in der Wildnis zufällig auftreten, ebenso wie schon vor dem Thalidomid mitunter genetisch phokomelische Kinder vorgekommen sind. Indem er die Fliegen, die auf die Behandlung ansprachen, weiterzüchtete, selektierte Waddington sie auf eine immer niedrigere Reaktionsschwelle hin. Nach ein paar Dutzend Generationen hatte er Fliegen gezüchtet, die regelmäßig kreuzäderungslose Flügel hatten, ohne dass die Puppen erwärmt worden waren. Das könnte wie Lamarcksche Vererbung aussehen, doch es ist keine. Es ist genetische Assimilation. Die Experimente wählten Fliegen aus, die bei immer niedrigeren Temperaturschwellen keine Kreuzäderung aufwiesen. Die Zuchtwahl führte schließlich zu Fliegen, die bei ›Normaltemperaturen‹ keine Kreuzäderung hatten.
Ebenso bietet die genetische Assimilation für die phokomelischen Kinder thalidomidgeschädigter Eltern eine viel bessere Erklärung als der Lamarckismus. Wir haben aus rund vier Millionen Föten diejenigen ausgewählt , die auf Thalidomid mit Phokomelie reagieren. Es ist kein Wunder, dass sie, wenn sie einander heiraten, einige wenige Nachkommen hervorbringen, deren Reaktionsschwelle sehr niedrig ist – sogar unter null. Sie sind so anfällig für Phokomelie, dass sie sie auch ohne Thalidomid bekommen, genauso wie Waddingtons Fliegen schließlich ohne Erwärmung der Puppen Flügel ohne Kreuzäderung bekamen.
Eins von den Dingen, die Darwin wirklich Kopfzerbrechen bereiteten, war die Existenz von Schlupfwespen – eine Tatsache, die unsere Scheibenweltgeschichte beeinflusst hat, in den wissenschaftlichen Kommentaren aber bisher keine Beachtung fand. Schlupfwespen legen ihre Eier in die Larven anderer Insekten, sodass die aus dem Wespenei schlüpfende Wespenlarve das Wirtstier auffrisst. Darwin sah, wie es im Zug der Evolution dazu gekommen sein konnte, doch es kam ihm ziemlich unmoralisch vor. Er wusste durchaus, dass Wespen kein Moralgefühl haben, aber er sah darin eine Art Fehler seitens des Wespenschöpfers. Wenn Gott jede Art auf Erden für einen speziellen Zweck entworfen hatte – was die meisten Menschen damals glaubten –, dann hatte Gott absichtlich Schlupfwespen entworfen, deren Zweck es war, andere Insektenarten zu fressen, die ebenfalls von Gott entworfen waren. Vermutlich, um gefressen zu werden.
Darwin war von diesen Wespen fasziniert, seit er ihnen in der Batofago-Bucht in Brasilien zum ersten Mal begegnet war. Er beruhigte schließlich sich selbst – aber nicht seine Nachfolger – mit dem Gedanken, Gott habe es für notwendig gehalten, die Existenz und Evolution von Schlupfwespen zu erlauben, um zum Menschen zu gelangen . Darauf spielt das Zitat am Ende des zehnten Kapitels an. Diese spezielle Erklärung ist mitsamt allen theistischen Interpretationen unter Biologen nicht mehr im Schwange. Schlupfwespen existieren, weil es etwas
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