Darwin und die Götter der Scheibenwelt
DNS wissen, ›das Geheimnis des Lebens‹, die Evolution und ihre Mechanismen ein offenes Buch seien. Kurz nach der Entdeckung der DNS-Struktur und ihres Vervielfältigungs-Mechanismus durch James Watson und Francis Crick in den späten Fünfzigerjahren begannen die Medien – und Biologie-Lehrbücher aller Niveaus –, sie als ›die Blaupause des Lebens‹ zu bezeichnen. Viele Bücher bis hin zu Dawkins’ Das egoistische Gen in den Siebzigern verbreiteten die Ansicht, mit der Kenntnis des Vererbungsmechanismus hätten wir den Schlüssel zu allen wichtigen Rätseln der Biologie und Medizin gefunden, insbesondere der Evolution.
Bald darauf sollte es zu einer großen Tragödie kommen, die aus einer Anwendung dieser irrigen Ansicht in der Medizin erwuchs. Das Beruhigungsmittel Thalidomid* [* In Deutschland unter dem Markennamen ›Contergan‹ berüchtigt. – Anm. d. Übers. ] wurde immer häufiger verschrieben und frei verkauft, um Übelkeit und andere geringfügige Missempfindungen während der ersten Schwangerschaftswochen zu behandeln. Erst später entdeckte man, dass bei einem kleinen Anteil der Fälle Thalidomid einen genetischen Defekt hervorruft, der Phokomelie genannt wird und bei dem Arme und Beine durch unterentwickelte Versionen ersetzt werden, die an Seehundflossen erinnern.
Es dauerte eine Weile, bis überhaupt jemand das bemerkte, zum Teil deshalb, weil wenige allgemeinpraktische Ärzte vor 1957 Erfahrungen mit Phokomelie hatten. Die meisten von ihnen hatten überhaupt nie einen Fall gesehen, doch nach 1957 sahen sie jährlich zwei oder drei. Der zweite Grund lag darin, dass sich dieser Defekt schwer mit einer bestimmten Arznei oder Behandlung in Verbindung bringen ließ: Schwangere Frauen nehmen bekanntermaßen eine Vielzahl von Zusätzen zu ihrer Ernährung und erinnern sich oft nicht genau, was es war. Nichtsdestoweniger war es bis 1961 mit medizinischer Detektivarbeit gelungen, Thalidomid als Verursacher der Phokomelie festzumachen.
Amerikanische Ärzte beglückwünschten sich, dass ihnen die pathologischen Fälle erspart geblieben waren, da Frances Kensey, eine medizinische Mitarbeiterin der Behörde für Lebensmittel und Medikamente, nach Tierversuchen mit dem Medikament Einwände erhoben hatte. Diese konkreten Einwände erwiesen sich schließlich als unbegründet, haben den Menschen in den USA aber viel Leid erspart. Sie hatte festgestellt, dass das Mittel nicht an trächtigen Tieren erprobt worden war, da seinerzeit solche Versuche nicht verlangt wurden. Jeder weiß, dass der Embryo seine eigene Blaupause für die Entwicklung besitzt, die sich von der der Mutter recht stark unterscheidet. Embryologen, die an der biologischen Fakultät ausgebildet wurden – und nicht an der medizinischen –, kannten jedoch die Arbeiten von Cecil Stockard, Edward Conklin und anderen Embryologen aus den Zwanzigerjahren. Darin war gezeigt worden, dass viele weit verbreitete Chemikalien bei Embryonen monströse Entwicklungsfehler auslösen können. Beispielsweise führen Lithiumsalze bei Fischembryonen oft zu Zyklopie, einem einzelnen mittleren Auge. Diese von Chemikalien ausgelösten alternativen Entwicklungswege haben uns eine Menge über die biologische Entwicklung von Organismen gelehrt und darüber, wie sie gesteuert wird.
Sie haben uns auch gelehrt, dass die Entwicklung eines Organismus nicht starr von der DNS seiner Zellen festgelegt ist. Umweltschädigungen können die Entwicklung in pathologische Richtungen lenken. Zudem ist die Genetik von Organismen, insbesondere wilden, so angelegt, dass trotz einer Anzahl von Umweltschädigungen eine ›normale‹ Entwicklung stattfindet, sogar trotz Veränderungen in manchen Genen. Diese so genannte ›kanalisierte‹ Entwicklung ist für den Evolutionsprozess sehr wichtig, denn es gibt immer Temperaturschwankungen, chemische Ungleichgewichte und Schädigungen, parasitische Bakterien und Viren; der heranwachsende Organismus muss gegen solche Variationen ›abgefedert‹ sein. Er muss über eine Vielzahl von Entwicklungswegen verfügen, um zu sichern, dass ›dasselbe‹ gut angepasste Lebewesen entsteht, gleichgültig, was die Umwelt tut. Zumindest in vernünftigen Grenzen.
Es gibt viele Entwicklungstaktiken und -strategien, um das zu erreichen. Sie reichen von einfachen Tricks wie dem Protein HSP90 bis zum sehr raffinierten Kompromiss der Säugetiere.
HSP bedeutet heat shock protein , Wärmeschockprotein. Es gibt etwa 30 von diesen Proteinen, und sie
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