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Das 1. Buch Des Blutes - 1

Das 1. Buch Des Blutes - 1

Titel: Das 1. Buch Des Blutes - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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beklagenswerten Opfer sah man nur die Nase und den Mund. Sein Kopf war nach hinten in den Boden gekippt, mit Fels verblendet. Und doch atmete er noch, schrie er noch.
    Eleanor Kooker scharrte am Boden mit eingerissenen Nägeln, aber dies hier war kein loser Sand. Es war absolut unnachgiebig.
    »Hol Hilfe«, verlangte sie von Lucy, die Hände voller Blut.
    Die zwei Frauen starrten einander an.
    »Gütiger Gott«, schrie der MUND.
    Der KOPF war still. An seinem glasigen Blick wurde offenkundig, daß er den Verstand verloren hatte.
    »Bitte, hilf uns…« flehte der Davidson-TORSO. »Hol Hilfe.«
    Lucy nickte.
    »Geh!« verlangte Eleanor Kooker. »Geh!«
    Lucy gehorchte empfindungslos. Schon zeigte sich ein schwacher Schimmer der Morgendämmerung im Osten. Bald würde die sengen-de Luft Blasen ziehen. In Welcome, drei Wegstunden von hier, würde sie nur alte Männer, hysterische Frauen und Kinder antreffen. Sie würde Hilfe aus vielleicht achtzig Kilometern Entfernung anfordern müssen. Nur einml angenommen, sie fände zurück. Nur einmal angenommen, sie bräche nicht erschöpft im Sand zusammen und stürbe.
    Es wäre Mittag, bevor sie der Frau, dem TORSO, dem MUND, dem KOPF
    Hilfe holen könnte. Bis dahin hätte die Wüste sie längst besiegt. Die Sonne hätte ihnen die Hirnschalen leergebrannt, Schlangen hätten sich in ihrem Haar eingenistet, die Bussarde hätten ihnen die hilflosen Augen ausgehackt.
    Sie blickte sich noch einmal flüchtig um nach ihren nichtssagenden Formen, die die blutige Weite des heraufdämmernden Tags zudem noch verkleinerte. Pünktchen und Kommas menschlicher Qual auf einem leeren Blatt aus Sand; sie hatte keine Lust an den Stift zu denken, der sie dort hingeschrieben hatte. Morgen dann.
    Nach einer Weile rannte sie los.
    Der Winter, fand Lewis, war keine Jahreszeit für alte Männer. Der Schnee, der zwölf Zentimeter hoch auf den Straßen von Paris lag, ließ ihn bis ins Mark erschauern. Was für ihn als Kind eine Freude gewesen war, empfand er jetzt als Fluch. Er haßte ihn aus tiefster Seele, haßte die Schneeball werfenden Kinder (Quietschen, Heulen, Tränen), er haßte auch die jungen Liebespaare, die darauf versessen waren, gemeinsam von einem Schneegestöber überrascht zu werden (Quietschen, Küsse, Tränen). Es war unangenehm und lästig, und er wünschte, er wäre in Fort Lauderdale, im warmen Sonnenschein.
    Aber Catherines Telegramm hatte, wenn auch nur zwischen den Zeilen, dringlich geklungen, und die Bande der Freundschaft zwischen ihnen hatten nun bald schon an die fünfzig Jahre überdauert. Er war ihretwegen hier, und wegen ihres Bruders Phillipe. Wie beeinträchtigt seine Lebensgeister in diesem Eiskeller auch sein mochten, es war albern, sich zu beklagen. Einem Ruf aus der Vergangenheit war er gefolgt, und das hätte er genauso rasch und bereitwillig getan, wenn Paris in Flammen gestanden wäre.
    Außerdem war Paris die Stadt seiner Mutter. Im Boulevard Diderot war sie zur Welt gekommen, noch zu einer Zeit, als die Stadt von freidenkerischen Architekten und Sozialreformern unbehelligt gewesen war. Heutzutage wappnete sich Lewis bei seinen Parisaufenthalten jedesmal gegen ein weiteres Sakrileg. Neuerdings kamen sie seltener vor, wie er bemerkt hatte. Die Rezession in Europa dämpfte die Planierraupensucht der Regierungen spürbar. Aber dennoch sahen sich Jahr für Jahr mehr schöne Häuser zu Schutt verwandelt.
    Ganze Straßenzüge manchmal, vom Erdboden vertilgt.
    Sogar die Rue Morgue.
    Natürlich gab es Zweifel, ob diese verrufene Straße überhaupt jemals existiert hatte, aber mit zunehmendem Alter hatte Lewis immer weniger Sinn darin gesehen, Faktum und Fiktion auseinanderzuhalten. Diese großartige Unterscheidung war die Sache junger Männer, die sich noch mit den Problemen des Lebens befassen mußten. Für die Alten (Lewis war 73) war die Trennung nutzlos. Was spielte das schon für eine Rolle, was wahr und was falsch war, was wirklich und was erfunden? In seinem Kopf bildete alles, die halben Lügen und die Wahrheiten, ein einziges Kontinuum persönlicher Geschichte.
    Möglicherweise hatte die Rue Morgue existiert, wie sie in Edgar Allan Poes unsterblicher Erzählung beschrieben worden war; möglicherweise war sie reine Erfindung. So oder so, jedenfalls war die berüchtigte Straße auf keinem Pariser Stadtplan mehr auffindbar.
    Vielleicht war Lewis ein bißchen enttäuscht, die Rue Morgue nicht gefunden zu haben. Immerhin war sie Teil seines Erbes. Wenn die Geschichten,

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