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Das 1. Buch Des Blutes - 1

Das 1. Buch Des Blutes - 1

Titel: Das 1. Buch Des Blutes - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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durchtrennenden Rasiermesser war.
    Jetzt, da das zwanzigste Jahrhundert sich durch sein letztes Viertel rackerte, mußte man sich über weitaus größere Greuel Rechenschaft ablegen, allesamt begangen von menschlichen Wesen. Der armselige Orang-Utan war von Anthropologen untersucht worden. Befund: ein einzelgängerischer Pflanzenfresser, still und stoisch. Die wahren Ungeheuer fielen weit weniger ins Auge und hatten weit mehr Macht.
    Neben ihren Waffen nahmen sich Rasiermesser jämmerlich aus; ihre Verbrechen waren gigantisch. In mancherlei Hinsicht war Lewis fast froh, alt zu sein, nahe daran, das Jahrhundert sich selbst zu überlassen. Ja, der Schnee ließ ihn bis ins Mark erschauern. Ja, der Anblick eines jungen Mädchens mit dem Gesicht einer Göttin wühlte sinnlos seine Begierden auf. Ja, wie ein Beobachter kam er sich jetzt vor, nicht mehr wie jemand, der teilnahm.
    Aber das war nicht immer so gewesen.
    1937 hätte er sich, in ebenjenem Zimmer des Quai de Bourbon Nummer elf, in dem er jetzt saß, über einen Mangel an Erlebnisfülle nicht beklagen können. Paris war in jenen Tagen noch immer ein Tempel der Lüste; geflissentlich ignorierte es Kriegsgerüchte und bewahrte sich, obwohl die Anspannung dabei teilweise mit Händen zu greifen war, einen Anschein süßer Naivität. Sie waren sorglos damals, im doppelten Sinne des Wortes, lebten ein endloses Leben vollkommener Muße.
    Natürlich war es nicht so. Das Leben war nicht vollkommen oder endlos. Aber eine Zeitlang - einen Sommer, einen Monat, einen Tag lang - hätte man glauben können, nichts auf der Welt würde sich ändern.
    In einem halbem Jahrzehnt sollte Paris dann brennen, und seine spielerische Schuld, die echte Unschuld war, sollte dauerhaft besudelt werden. Viele Tage (und Nächte) hatten sie in dem Appartement verbracht, das Lewis jetzt bewohnte, eine wunderbare Zeit; wenn er daran dachte, glaubte er den Schmerz des Verlusts im Magen zu spüren.
    Seine Gedanken wandten sich Ereignissen neueren Datums zu. Seiner Ausstellung in New York, in der sein minutiös die Verdammnis Europas schildernder Gemälde-Zyklus einen glänzenden Erfolg bei der Kritik hatte verzeichnen können. Mit dreiundsiebzig Jahren war Lewis Fox ein gefeierter Mann. In jeder Kunstzeitschrift konnte man heute Artikel über ihn lesen. Bewunderer und Käufer waren über Nacht wie Pilze aus dem Boden geschossen, versessen darauf, seine Werke zu erstehen, mit ihm zu reden, ihn bei der Hand zu fassen.
    Alles zu spät natürlich. Die Torturen des Schaffens waren lang vorüber, und vor fünf Jahren hatte er seine Pinsel endgültig weggelegt. Jetzt, wo er nur noch Zuschauer war, kam ihm sein Triumph bei der Kritik wie eine Parodie vor. Aus einiger Entfernung besah er sich den Rummel, unangenehm berührt, beinah schon angeekelt.
    Das Telegramm aus Paris, mit der Bitte um seinen Beistand, war ihm der willkommenste Anlaß gewesen, sich von dem Kreis der lobhudelnden Schwachköpfe loszueisen. Jetzt wartete er in der dunkel werdenden Wohnung, sah dem nicht abreißenden Fluß der Wagen über den Pont Louis-Philippe zu; ermüdete Pariser traten wieder die mühselige Heimfahrt durch den Schnee an. Ihre Hupen plärrten; ihre Motoren stotterten und brummten; ihre gelben Nebelscheinwerfer zogen ein Lichtband über die Brücke.
    Catherine kam noch immer nicht.
    Der Schnee, der fast einen ganzen Tag lang ausgeblieben war, fing wieder an zu fallen, flüsterte an den Scheiben. Der Verkehr floß über die Seine, die Seine floß unter dem Verkehr. Die Nacht brach herein.
    Endlich hörte er Schritte im Hausflur, Geflüster mit der Haushalterin.
    Es war Catherine. Sie war es, endlich.
    Er stand auf und starrte die Tür an, stellte sich vor, wie sie aufging, ehe sie aufging, stellte sich vor: Catherine auf der Schwelle.
    »Lewis, mein Engel…«
    Sie lächelte ihn an, ein blasses Lächeln in einem noch blasseren Gesicht. Sie sah älter aus, als er erwartet hatte. Wie lang hatte er sie nicht mehr gesehen? Vier Jahre oder fünf? Ihr Duft war derselbe, den sie immer an sich hatte. Seine Dauerhaftigkeit wirkte beruhigend auf Lewis. Er küßte sie leicht auf die kalten Wangen.
    »Du siehst gut aus«, log er.
    »Bestimmt nicht«, sagte sie. »Wenn ich gut ausseh’, beleidige ich damit Phillipe. Wie könnt’ es mir gut gehn, wenn er in solchen Schwierigkeiten steckt?«
    Sie gab sich resolut und schroff, wie immer.
    Sie war drei Jahre älter als er, aber sie behandelte ihn wie ein Lehrer ein aufsässiges Kind. So

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