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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
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seine besten Freunde, und er war einer von ihnen.“
    Schweißgebadet setzte ich mich im Bett auf. Hatte ich das jetzt geträumt?
    Ich sprang aus dem Bett, die Wärmekamera blinkte wie auf Speed. Im hinteren Wohnzimmer, das an die Küche anschloss, fand ich mein Tablet auf dem Couchtisch. Mit zitternden Fingern lud ich mir das E-Book runter. Ich blieb im Nachthemd auf dem Sofa sitzen und öffnete das Buch. Die Stelle war ziemlich am Anfang. Ich klickte mich durch, zehn Prozent, fünfzehn Prozent, zwanzig Prozent. Verdammt, ich war mir so sicher, dass ich diese Stelle fast wortgetreu zitieren konnte, und sie war weit vorn im Buch. Bei 23 Prozent wurde ich fündig. Das, was ich vorhin aus dem Gedächtnis zitiert hatte, lautete im Original wie folgt:
    „
Robert war im Sternzeichen der Jungfrau geboren. Es war ihm wichtig, alles so rational wie möglich zu erledigen. Ja, er war ein gut organisierter Mensch. Also portionierte er sie so, wie es ihm am einfachsten erschien. Je ein glatter Schnitt unter den Knien, ein glatter Schnitt über den Fußknöcheln, ein Schnitt unter den Beckenknochen. Er benutzte das feine Blatt der Motorsäge, so dass die Schnitte ordentlich und sauber aussahen. Er machte so wenig Dreck wie möglich. Jedes Stück verpackte er sorgfältig in einem Plastiksack, die kleinen Gliedmaßen kamen in die weißen Mülltüten, den Rumpf steckte er in den großen, schwarzen Müllsack. Und dann kamen sie in die Tiefkühltruhe, dort taten sie keinem weh und waren sicher vor den Augen Neugieriger. Der Fall musste erst erkalten, bevor er seine Tiefkühltruhe entleeren konnte – nach und nach, wenn er mit dem Boot hinausfuhr aufs Meer oder wenn er mit seiner Cessna über die Everglades flog. Ein Unterschenkel hier, ein Fuß dort, die Haie und die Alligatoren waren seine besten Freunde, und er war einer von ihnen. Nur die Köpfe der Frauen behielt er in seiner Truhe. Er holte sie je nach Lust und Laune heraus – ihre eiskalten Augen erregten ihn immer wieder aufs Neue.“
    Ich sank auf dem Sofa in mich zusammen. Da kopierte einer die literarischen Morde meines Mannes. Ich musste ihn anrufen. Oder eine SMS schreiben. Ich schrieb:
    „Hallo Schatz, hast du schon Nachrichten gesehen? Da ist ein Teil von einer Frau gefunden worden, erinnert mich an Everglades.“
    Ich befürchtete, dass er sauer sein würde, wahrscheinlich hatte ich ihn jetzt wieder in seinem Schreibfluss gestört. In dem Moment fiel mir ein, dass ich gar nicht gehört hatte, ob Sandra nach Hause gekommen war. Ich schlich die Stufen hoch in den ersten Stock und horchte an der Tür zum vorderen Gästezimmer. Es war totenstill. Leise drückte ich die Klinke runter und öffnete die Tür in der Dunkelheit, die nur durch das Mondlicht, das durch ein kleines Oberlicht fiel, erhellt wurde. Sandra war nicht da. Ich schloss die Tür und stieg die Treppen wieder hinab. Musste ich mir Sorgen machen?
    Ich ging in die Küche und holte mir ein Glas Mangosaft. Mir war ganz flau im Magen, irgendetwas nagte an mir. Sandra war alt genug, und wenn sie Lust auf einen One-Night-Stand hatte, dann war das ganz allein ihre Angelegenheit. Dass es zwischen ihr und dem Makler geknistert hatte, hatte ich ja mitbekommen. Und dass es Verrückte gab, die Mordmethoden aus Büchern nachahmten, das war nun weiß Gott nichts Neues. Leg dich wieder hin, sagte ich mir.
    Aber an Schlaf war nicht zu denken. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere und starrte immer wieder in diesen Himmel aus grünen und roten Lichtern über meinem Bett. Ich sah Sandra vor mir, gefangen in einer Hütte, ich sah das Messer, ich sah Blut, ich hörte Sandra schreien. „Hilfe!“
    „Wach auf, Engelchen!“ George rüttelte an meiner Schulter.
    George?
    Mühsam öffnete ich die Augen, ich konnte mich kaum bewegen, meine Glieder schienen tonnenschwer.
    „Hast du einen Albtraum gehabt, Engelchen?“
    Ich setzte mich im Bett auf. „Ja, oh ja, Schatz, entschuldige, ich muss wohl schlecht geträumt haben“, sagte ich und kuschelte mich in seine Arme.
    Er streichelte mir sanft über den Kopf.
    „Was machst du hier?“, fragte ich.
    „Ich habe deine SMS bekommen“, sagte er. „Und dann konnte ich nicht mehr schreiben.“
    Ich schaute ihn in dem Dämmerlicht meines Schlafzimmers an. War er sauer auf mich? Sollte ich ihn fragen, ob er das mit den Leichenteilen schon gehört hatte? Aber bevor ich ihn fragen konnte, beugte er sich über mich und verschloss meinen Mund sanft mit seinen Lippen. Er liebte

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