Das 2. Gesicht
mich ein wenig überforderte. Denn einen Teil dessen, was er fragte, hatte ich wirklich nicht verstanden. Okay, ich weiß gerade noch, was Krebs oder Herzinfarkt auf Englisch heißt, aber es kann von einem durchschnittlich gebildeten deutschen Mädchen doch kein Mensch erwarten, dass es weiß, ob es an Hypothyroidism leidet. Ich musste sämtliche Allergien, Krankheiten und Medikamente aufzählen, die ich in meinem ganzen Leben je gehabt oder eingenommen habe. Allerdings hatte dieses „Wer wird Millionär“-Spiel einen Vorteil: Ich musste mich unendlich konzentrieren. Er bewegte danach noch mal alle meine Knochen, um festzustellen, ob ich irgendwo verletzt war. Abgesehen von ein paar Einschnitten an meinen Handgelenken war ich äußerlich unversehrt.
Als ich schon dachte, dass er mich jetzt dem Menschenfresserrudel vorwerfen würde, meinte er, ich sollte warten, bis die Röntgen-Assistentin mich abholen würde. Röntgen? Wieso das denn? Als die Assistentin, „Hi, I am Rosie“, nach einer Ewigkeit eintraf, um mich inklusive Liege in einen anderen Raum zu schieben, war ich bereits eingeschlafen.
„Wissen Sie, was mit meiner Freundin passiert ist?“, fragte ich die Frau, auf deren dauergewellten Schopf ich blickte. Rosie, die aussah, als ob sie ihren siebzigsten Geburtstag bereits eine Weile hinter sich hatte, schüttelte den Kopf.
„Ich darf Ihnen keine Auskunft geben, Honey.“
Was für ein Land, in dem jede Kellnerin und Assistentin dich ungestraft Honey nennt. Ich ergab mich also meinem Schicksal, obwohl ich am liebsten laut schreiend von der Liege aufgestanden wäre.
Beim Warten vor dem Röntgenraum dämmerte ich wieder von dannen. Irgendwann wurde ich dann erlöst, allerdings ließ man mich nicht alleine aufstehen, sondern trug mich von meiner Liege auf eine Bahre. Hilfe!
„Ich kann aufstehen“, protestierte ich. Die beiden Frauen, die mich umgebettet hatten, schauten mich zweifelnd an. Oder bedauernd?
Was eigentlich war passiert? Sah ich so schrecklich aus, dass jeder hier meinte, dass ich unter einer tödlichen Krankheit leiden würde? Ich konnte doch meine Hände und meine Füße bewegen, warum guckten die alle so mitleidig? Warum stellte man mir so dusselige Fragen, wie die, ob ich Hypothyroidism hätte? Statt dessen hätte sich Rosie lieber meinen wunden Handgelenken widmen sollen und vielleicht ein wenig Heilsalbe auf meine blutigen Striemen schmieren können.
Heute weiß ich, dass das ganz normal ist in amerikanischen Krankenhäusern. Aber damals war es meine erste Begegnung mit dem amerikanischen System der Klagen-Vermeidung. Man sicherte sich hier vorher rundum ab, ob wirklich alles okay ist, bevor man jemanden wieder auf seinen zwei Beinen nach Hause gehen lässt. Nicht auszudenken, wenn ich vor dem Krankenhaus an Hypothyroidism zusammenbrechen würde und dann Dr. „Äfferitt“ dafür verantwortlich machen würde. Nach dem Röntgen wurde ich zurückgebettet und wieder vor die Tür geschoben. Nach gefühlten fünf Stunden kam Rosie endlich zurück und brachte mich in ein anderes Zimmer. Ich wollte von der Liege aufstehen, doch Rosie befahl: „Nein, Honey, liegen bleiben, der Doktor kommt gleich.“
Noch einen Doktor? Wieso das denn? Aber es kam kein Doktor, sondern eine weitere Assistentin, die mir half, aufzustehen.
„Hi, Darling, ich bin Rita“, flötete die Frau, die zwar deutlich unter siebzig war, dafür aber eindeutig humpelte.
„Was passiert jetzt?“, fragte ich Rita, während ich mich aufsetzte. Die schaute mich an, wie eine Grundschullehrerin einen Abc-Schützen, der fragte, was er denn in der Schule solle.
„Bitte, wir müssen hier rüber“, sagte sie und zeigte auf einen in der Ecke stehenden Stuhl, der mir bekannt vorkam. Ich versuchte, mit den Beinen auf die Erde zu kommen, die Liege war für einsfünfundsechzig laufende Meter einfach zu hoch. Also rutschte ich mit dem Hinterteil runter. Hätte Rita mich nicht aufgehalten, dann wäre ich erneut in mich zusammengesackt. Himmel, was machte der Pudding in meinen Beinen? Dankbar hielt ich mich an Rita fest, die mich auf den gynäkologischen Stuhl bugsierte. Sie wollten also sehen, ob ich vergewaltigt worden bin. Okay, sie hätten ja auch fragen können, oder? Als die Gynäkologin kam, sagte ich ihr, dass es wirklich nicht nötig sei, ich sei nicht vergewaltigt worden. Sie schaute mich bedauernd an und meinte, sorry, aber sie tue einfach nur ihre Arbeit. Und schwupps, war mein Kopf in Höhe meines Beckens und ich
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