Das 2. Gesicht
schaute erneut in das kaltweiße Neonlicht, das hier jeden einzelnen Raum ausstrahlte. Also ließ ich auch die gynäkologische Untersuchung klaglos über mich ergehen. Sie nahm Abstriche, während ich am liebsten wieder laut schreiend weggelaufen wäre. Ich wollte hier raus.
„Wissen Sie, wo meine Freundin Sandra ist?“, fragte ich die Gynäkologin. Die war nicht ganz so freundlich wie Rosie und Rita, sie murmelte etwas Unverständliches zwischen meinen Beinen. Hör endlich auf!
Als sie aufhörte, half mir Rita zurück auf die Liege und ich wurde wieder in ein anderes Zimmer geschoben. Hier musste ich nicht lange warten, dann kam eine Frau zu mir, die sich mir als O’Kelly vorstellte. War das nun ein Vor-oder Nachname, fragte ich mich. O’Kelly trug keinen weißen Kittel, sondern war Polizei-Psychologin. Aha, dachte ich, jetzt testen sie mich auch noch auf meinen Geisteszustand. Oder war das der psychologische Beistand, den die Opfer ja in amerikanischen Filmen immer kriegten? Ich wollte weder auf meinen Geisteszustand getestet werden, noch brauchte ich psychologischen Beistand, ich wollte endlich wissen, was mit meiner Freundin Sandra los war. Ich fragte sie.
O’Kelly lächelte wie eine Sphinx. Was zum Teufel war hier eigentlich los? Ich war kurz davor, das ganze Krankenhaus zusammenzuschreien. Eine Antwort, eine klitzekleine Antwort hätte doch ausgereicht.
„Sie wissen es nicht?“, fragte O’Kelly.
Langsam wurde das absurdes Theater.
„Ich würde nicht fragen, wenn ich es wüsste“, sagte ich.
Sie tätschelte meine Hand. Gott sei Dank nannte sie mich nicht Honey. „Bitte, darf ich mich aufsetzten?“, fragte ich. Von dieser Liegerei tat mir allmählich der Rücken weh und man ist wirklich nicht auf Augenhöhe bei diesem Frage-und-Antwort-Spiel.
O’Kelly entschuldigte sich und half mir, mich aufzusetzen. Das war zwar auch nicht gemütlich, aber besser, denn O’Kelly saß auf einem Küchenschemel neben der Liege und ich konnte jetzt auf sie herabschauen. Eine Position, die ich weitaus kommoder fand als umgekehrt. Aber O’Kelly merkte es augenblicklich und stand auf.
„Woran erinnern Sie sich?“, fragte sie.
Ich stützte mich mit beiden Händen hinten auf der Liege auf. Denn diese Frage hatte ich befürchtet. Ich erinnerte mich daran, dass ich Sandra gesucht hatte. Und an den Himmel, der über mir einstürzte, an die Lichter und die Sirenen, die den Weltuntergang anzuzeigen schienen. Was also sollte ich sagen?
„Ich erinnere mich, dass plötzlich schwarze Männer aus dem Nebel auftauchten und schrien“, sagte ich.
O’Kelly nickte. Sie schaute mich erwartungsvoll an. „Bitte, wo ist Sandra, wie geht es ihr?“
„Wie ging es Sandra, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben?“, fragte O’Kelly.
„Ich weiß es nicht, verstehen Sie denn nicht, ich will von Ihnen wissen, wie es ihr geht. Sie konnte doch nicht sprechen!“ Ich hatte geschrien. Die Frau machte mich echt sauer. Alle machten mich hier sauer. „Sandra hatte einen silbernen Streifen Klebeband über dem Mund und war auf einer Liege festgeschnallt!“, schrie ich.
„Wie war sie festgeschnallt?“, fragte O’Kelly.
Reiß dich zusammen, Julia, flüsterte mir die Julia zu, die unten auf der Liege saß, während ich geistig unter der Decke hing.
„Sie war so festgeschnallt, wie man Kranke in Krankenhäusern fixiert, die sich nicht selbst verletzen sollen“, sagte ich.
Woher ich denn wisse, wie Kranke in Krankenhäusern festgeschnallt werden, fragte sie mich.
Ich fing an zu weinen. Endlich. Vielleicht. Die Tränen schossen mir aus den Augen, ich sah meine Mutter vor mir, wie sie da festgeschnallt gelegen hatte, kurz bevor sie gestorben war. O’Kelly strich mir über den Rücken. Oh Kelly, ich kann doch nicht fremden Menschen davon erzählen, wie es damals war, bei meiner Mutter im Krankenhaus, wie es war …
Abrupt hörte ich auf zu schluchzen. Mir war gerade eingefallen, dass ich nicht nur Sandra suchte. Dass ich mir nicht nur um Sandra Sorgen machen musste. Ich hatte meinen Mann erschossen! Vielleicht sollte ich auch anfangen, mir um mich Sorgen zu machen.
„Mrs. O’Kelly, ich erinnere mich nicht, wie es Sandra ging, weil sie nichts sagen konnte. Sie sah unversehrt aus, sie war nur festgeschnallt und sie war in allerhöchster Panik“, sagte ich und versuchte, meiner Stimme einen sanften Unterton zu geben. „Ich bin mit diesem Monster mitgefahren, weil ich gedachte habe, dass ich Sandra irgendwie helfen kann“,
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