Das 3. Buch Des Blutes - 3
ausschließlich eine Frage von Zeit und Veranlagung.
Im Dorf bauten jene, die auch nur einen Bruchteil der Ereignis se in der Senke zu Gesicht bekommen hatten, bereits eifrig ihre Geschichten aus, und die Tatsache der Augenzeugenschaft verlieh noch den phantastischsten Erfindungen Glaubwürdigkeit. Das Chaos auf dem Kirchhof, die zertrümmerte Pfarrhaustür, der mit Seilen abgezäunte Wagen auf der Nordstraße.
Was immer in dieser Nacht von Samstag auf Sonntag vorgefallen war, es würde lange dauern, bis man es vergaß.
Ein Erntedankfest fand nicht statt, was auch niemanden weiter verwunderte.
Maggie war hartnäckig: »Ich finde, wir sollten alle unbedingt heim nach London.«
»Und noch vor einem Tag sollten wir unbedingt hierbleiben.
Uns in die Gemeinschaft eingliedern.«
»Das war am Freitag, ehe diese ganze… diese… Hier läuft ein Wahnsinniger frei rum, Ron.«
»Wenn wir jetzt fahren, kommen wir nicht wieder.«
»Ach, was soll denn das, natürlich kommen wir wieder.«
»Wenn wir abhauen, sobald der Ort mal ernsthaft bedroht ist, dann geben wir ihn damit ganz auf.«
»Das ist lachhaft.«
»Du warst diejenige, die so erpicht drauf war, daß wir uns sehen lassen, daß wir uns für jeden sichtbar am Dorfleben beteiligen. Schön, dann müssen wir uns aber auch an den Todesfällen beteiligen. Und ich bleibe - und steh’ es bis zum Ende durch. Fahr du ruhig heim nach London. Mit den Kindern.«
»Nein.«
Er seufzte schwer. »Ich will dabeisein, wenn man ihn schnappt, egal wer es ist. Ich will Gewißheit haben, daß die ganze Angelegenheit bereinigt ist, es mit eigenen Augen sehen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir uns hier je sicher fühlen können.«
Widerstrebend nickte sie. »Dann machen wir wenigstens, daß wir ‘ne Weile aus dem Hotel rauskommen. Mrs. Blatter wird langsam meschugge. Können wir nicht irgendwohin fahren?
An die frische Luft …«
»Ja, warum nicht?«
Es war ein milder Septembertag. Die ländliche Umgebung, stets bereit, mit einer Überraschung aufzuwarten, leuchtete vor Lebendigkeit. Späte Blumen erstrahlten in den Hecken am Straßenrand. Vögel stießen nieder und schwirrten wieder hoch von der Straße, auf der die Miltons dahinfuhren. Der Himmel war azurblau, die Wolken eine Fantasie in Cremeweiß. Wenige Kilometer außerhalb des Dorfs verflüchtigten sich alle Greuel der letzten Nacht, und die bloße Überschwenglichkeit des Tages hob allmählich die Gemütsverfassung der Familie. Mit jedem Kilometer, den sie sich von Zeal entfernten, verringerten sich Rons Ängste. Bald fing er zu singen an.
Auf dem Rücksitz quengelte Debbie vor sich hin. Eben noch:
»Daddy, mir is’ heiß«, dann: »Ich will ‘n Orangensaft, Daddy«, gleich darauf: »Ich muß Pipi machen.«
Ron hielt auf einem leeren Straßenabschnitt an und spielte den nachsichtigen Vater. Die Kleinen hatten eine Menge durchgemacht; heute durfte man sie ruhig verwöhnen.
»Also gut, Schätzchen, hier kannst du Pipi machen, und dann schaun wir, daß wir ein Eis für dich kriegen.«
»Wo is’n das Lulu?« fragte sie. So ein saublödes Wort; Schwie germamas verniedlichende Ausdrucksweise.
Maggie mischte sich ein. Wenn Debbie in dieser Stimmung war, kam sie mit ihr besser zurecht als Ron. »Du kannst hinter die Hecke gehn«, sagte sie.
Debbie blickte entsetzt drein. Ron tauschte ein angedeutetes Lächeln mit lan. Der Junge hatte einen abwesenden Gesichtsausdruck. Eine Grimasse schneidend, vergrub er sich wieder in sein eselsohriges Comicbucn. »Beeil dich, ja?« murmelte er.
»Dann könn’ wir endlich zu was Richtigem hinfahrn.«
Zu was Richtigem, dachte Ron. Eine Stadt meint er. Er ist ein Großstadtkind; wird ‘ne Weile dauern, ihn davon zu überzeugen, daß ein Hügel mit Aussicht durchaus was Richtiges ist.
Debbie quengelte immer noch. »Ich kann da nicht hingehn, Mami …«
»Wieso nicht?«
»Es könnt’ mich wer sehn.«
»Niemand sieht dich, Schätzchen«, versicherte ihr Ron. »Jetzt folg schön deiner Mami;« Er wandte sich an Maggie. »Geh mit ihr, Liebes.«
Maggie rührte sich nicht vom Fleck. »Dazu braucht sie mich nicht.«
»Sie kann nicht allein über das Tor klettern.«
»Dann geh doch du mit.«
Ron war entschlossen, sich auf keinen Streit einzulassen. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Also komm schon«, sagte er.
Debbie stieg aus, und Ron half ihr über das Eisentor in das dahinterliegende Feld. Es war bereits abgeerntet. Es roch …
erdig.
»Schau nicht her«, ermahnte sie
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