Das 3. Buch Des Blutes - 3
ihn mit aufgerissenen Augen,
»du darfst nicht herschaun.«
Sie verstand sich bereits aufs Manipulieren, im reifen Alter von neun. Sie spielte mit ihm besser als auf dem Klavier, an dem sie Stunden nahm. Er wußte es, und sie wußte es auch. Er lächelte sie an und schloß die Augen. »In Ordnung. Siehst du ? Ich hab’
die Augen zu. Jetzt beeil dich, Debbie. Bitte.«
»Versprich, daß du nicht guckst.«
»Ich guck’ nicht.« Mein Gott, dachte er, sie macht aber wirklich
‘ne bühnenreife Nummer draus. »Beeil dich.«
Flüchtig blickte er zum Wagen zurück. lan saß auf dem Rücksitz, las noch immer, in irgendwelche billigen Heldengeschichten vertieft, starrte mit versteinertem Gesicht in das Abenteuer. Der Junge war so ernst. Die gelegentliche Andeutung eines Lächelns; das war auch schon alles, was Ron ihm je entlocken konnte. Es war aber keine Pose, kein geheimnistuerisches Gehabe. Er schien ganz zufrieden damit, alle Schauspielerei seiner Schwester zu überlassen.
Hinter der Hecke zog Debbie ihre Sonntagsschlüpfer herunter und ging in die Hocke, aber nach dem ganzen Theater wollte ihr Pipi nicht kommen. Sie konzentrierte sich, aber das machte es nur noch schlimmer.
Rons Augen wanderten das Feld hinauf zum Horizont. Weiter oben waren Möwen, die sich wegen eines Leckerbissens kabbelten. Er sah ihnen eine Zeitlang zu, mit wachsender Ungeduld.
»Jetzt mach’ schon, Liebes«, sagte er.
Er schaute wieder zum Wagen. lan beobachtete ihn jetzt, das Gesicht schlaff vor Langeweile oder etwas Ähnlichem. Lag noch etwas anderes darin, eine tiefe Resignation fragte sich Ron. Der Junge schaute wieder in sein »Utopia«-Comicbuch, ohne den flüchtigen Blick seines Vaters zu erwidern.
Dann schrie Debbie auf: ein ohrendurchdringendes Kreischen.
»Jesus!« Augenblicklich überkletterte Ron das Tor, und Maggie war nicht weit hinter ihm. »Debbie!«
Sie lehnte an der Hecke und starrte mit rotem Gesicht flennend den Boden an.
»Was’n los, um Gottes willen?«
Sie schnatterte zusammenhanglos. Ron folgte ihrem Blick.
»Was is’n passiert?« Maggie hatte Schwierigkeiten, über das Tor zu kommen.
»Nichts, nichts … ‘s alles in Ordnung.«
Fast vergraben im Gestrüpp am Feldrand, lag ein toter Maulwurf, die Augen herausgepickt, das verwesende Fell von Fliegen überwimmelt.
»Mein Gott, Ron.« Maggie sah ihn vorwurfsvoll an, als ober das verdammte Ding dort vorsätzlich hingelegt hätte, »‘s alles gut, Herzilein«, sagte sie, schob mit dem Ellbogen ihren Gatten zur Seite und schloß Debbie fest in die Arme.
Das Schluchzen wurde etwas leiser. Großstadtgören, dachte Ron. Werden sich an solche Sachen gewöhnen müssen, wenn sie auf dem Land leben wollen. Keine Straßenfeger da, um jeden Morgen die überfahrenen Katzen aufzukehren. Maggie wiegte sie hin und her, und der gröbste Tränenstrom war offensichtlich versiegt.
»Sie ist bald wieder okay«, sagte Ron.
»Natürlich ist sie das, nicht wahr, mein Schatz?« Maggie half ihr, den Schlüpfer hochzuziehen. Debbie schniefte noch immer; in ihrem Elend dachte sie gar nicht mehr an die Wahrung der Intimsphäre.
Hinten im Wagen hörte sich lan das Gemaunze seiner Schwester an und versuchte, sich auf seinen Comic zu konzentrieren.
Hauptsache, sie steht im Mittelpunkt, dachte er. Na meinetwegen, soll sie.
Plötzlich wurde es dunkel.
Mit hörbar klopfendem Herzen blickte er auf von der Buchseite. Neben seiner Schulter, fünfzehn Zentimeter von ihm entfernt, bückte sich etwas herunter, um in den Wagen zu spähen, ein Gesicht wie die Hölle. Er konnte nicht schreien, seine Zunge verweigerte jede Bewegung. Er konnte lediglich den Sitz überschwemmen und sinnlos mit den Füßen ausschlagen, während die langen, zerschrammten Arme durch das Fenster nach ihm griffen. Die Nägel des Ungeheuers schälten sich in seine Fesseln, zerrissen eine Socke. Einer seiner neuen Schuhe fiel herunter bei dem Kampf. Jetzt hatte es seinen Fuß, und er wurde über den nassen Sitz Richtung Fenster gezerrt. Er fand seine Stimme wieder. Nicht ganz seine Stimme, es war eine jämmerliche, dümmlich klingende Stimme; sie entsprach nicht dem tödlichen Entsetzen, das er empfand. Und kam sowieso viel zu spät. Es zerrte ihn an den Beinen durch das Fenster, und jetzt war er schon fast mit dem Hintern draußen. Während es seinen Rumpf ins Freie hievte, schaute er durch die Heckscheibe, und wie im Traum sah er Daddy am Tor, der schaute so, so lächerlich drein. Kletterte übers Tor, kam ihm
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