Das 3. Buch Des Blutes - 3
nicht sehen konnte, konnten seine Verfolger ihn ebensowenig sehen.
Falls die Bullen bei der Suche nach ihm tatsächlich auf das Grundstück vordrangen, dann hörte er sie zumindest nicht.
Womöglich hatte er sich geirrt, womöglich waren sie auf der Straße hinter irgendeinem anderen armen Ganoven her und nicht hinter ihm. Na okay, was soll’s. Er hatte sich ein hübsches Versteck besorgt, ideal, um eine Zeitlang auszuruhen, und das war super, genau das richtige.
Komisch, die Luft hier war im Grunde gar nicht so schlimm. Es war nicht die stickig-unbewegte Luft eines Blindschachts oder Speichers, die Atmosphäre in dem Schlupfwinkel war voller Leben. Keine frische Luft, das beileibe nicht, dazu roch sie wirklich zu alt und zu abgestanden, aber trotzdem vibrierte sie und summte. Sie sang ihm geradezu in den Ohren, ließ seine Haut prickeln wie eine kalte Dusche, stieg ihm kribbelnd die Nase hoch und stopfte ihm die verrücktesten Dinge in den Kopf. Wie wenn man von etwas high ist, genau so. Mann, fühlte er sich wohl. Sein Bein tat überhaupt nicht mehr weh, oder wenn, dann war er zu abgelenkt von den Bildern in seinem Kopf. Bis zum Überlaufen füllte er sich mit Bildern: tanzenden Mädchen und sich küssenden Paaren, Abschieden an Bahnhöfen, alten finsteren Häusern, Komikern, Cowboys, Unterwasserabenteuern - Szenen, die er nie und nimmer erlebt hatte, die ihn aber jetzt bewegten wie die pure Erfahrungswirklichkeil selbst, wahr und unbestreitbar. Bei den Abschieden wollte er weinen, die Komiker hingegen auslachen, die Mädchen wiederum mußte man mit heißen Blicken anstieren, die Cowboys mit Gebrüll anfeuern.
Wo war er hier eigentlich hingeraten ? Er spähte durch den Zauberglanz der Bilder, die verdammt nah dran waren, seine Augen ganz zu überwältigen. Der Raum, in dem er sich befand, war höchstens einen Meter zwanzig breit, aber hoch und von einem flackernden Lichtschein erhellt, der hie und da durch Risse in der inneren Wand drang. Barberio war zu benebelt, um die Herkunft des Lichts zu erkennen, und seine rauschenden Ohren konnten sich aus dem Dialog auf der anderen Seite der Mauer keinen Sinn zusammenreimen. Es war »Satyricon«, der zweite der beiden Fellini-Filme, die der Palast diesen Samstag in seiner Doppel-Nachtvorstellung zeigte.
Barberio hatte den Streifen nie gesehen, ja sogar noch nie etwas von Fellini gehört. Er hätte ihn angewidert (Schwuchtelfilm, italienischer Mist). Barberio bevorzugte Unterwasserabenteuer, Kriegsfilme. Oh, und tanzende Mädchen. Alles, worin tanzende Mädchen vorkamen.
Komisch, obwohl er in seinem Schlupfwinkel mutterseelenallein war, hatte er den verrückten Eindruck, daß man ihn beobachtete. Durch das Kaleidoskop von Busby-Berkeley-Tanznummern, das auf der Innenseit e seines Schädels ablief, fühlte er Augen, nicht nur ein paar - Tausende -, die ihn beobachteten. Es war kein so schlimmes Gefühl, daß man deswegen erst mal einen Schnaps gebraucht hätte, aber diese Wesen waren dauernd da, starrten ihn unentwegt an, als ob er etwas besonders Sehenswertes wäre, lachten ihn manchmal aus, weinten manchmal, aber hauptsächlich glotzten sie mit hungrigen Augen.
Tatsache war, daß er sowieso nichts gegen sie hätte unternehmen können. Seine Glieder hatten den Geist aufgegeben. In den Händen und Füßen hatte er überhaupt kein Gefühl mehr.
Er wußte nicht, und das war wahrscheinlich auch besser so, daß er sich beim Einstieg in diese Zone seine Wunde aufgerissen hatte und dabei war zu verbluten.
Nachts, gegen zwei Uhr fünfundfünfzig, während Fellinis
»Satyricon« mit seiner vieldeutigen Schlußszene endete, starb Barberio in dem Niemandsland zwischen der Rückseite des eigentlichen Gebäudes und der Rückwand des Kinos.
Der Filmpalast war einmal eine Missionshalle gewesen, und wenn Barberio beim Sterben nach oben geschaut hätte, wäre ihm möglicherweise das stümperhaft hingemalte Fresko einer Englischen Heerschar ins Auge gefallen, das durch den rußigen Schmutz hindurch noch immer erkennbar war, und hätte ihn zu seiner eigenen Himmelfahrt angeregt. Aber er starb mit dem Blick auf die tanzenden Mädchen, und das war ihm durchaus recht so.
Die falsche Mauer, ebenjene, die das Licht von der Rückseite der Leinwand durchließ, war als behelfsmäßige Trennwand errichtet worden, um das Fresko der Heerschar zu verdecken.
Diese Lösung hatte man respektvoller gefunden als eine endgültige Übermalung der Engel, und außerdem befürchtete der Mann, der die
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