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Das 3. Buch Des Blutes - 3

Das 3. Buch Des Blutes - 3

Titel: Das 3. Buch Des Blutes - 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Sieb?
    Widerstandslos ließ ich mich von ihm zu unserer Errettung ziehen. Mit jedem Schritt nahm meine Gewißheit zu, daß sich der Strand urplötzlich erheben und uns zu Tode steinigen würde, womöglich eine Mauer, ja einen Turm bilden würde, wenn wir nur noch einen einzigen Schritt bis zur Sicherheit hatten. Der Strand konnte jedes Spiel spielen, das ihm gefiel, überhaupt jedes Spiel. Aber andererseits, vielleicht gefielen Spiele den Toten nicht. Beim Spielen geht es um gewagte Einsätze, und die Toten hatten bereits verloren. Vielleicht agieren die Toten nur mit der dürren Risikofreiheit von Mathematikern.
    Der Mann warf mich geradezu ins Boot und begann, es in die schlammige Flut hinauszuschieben. Keine Steinmauern erhoben sich, um unsere Flucht zu verhindern. Keine Türme zeigten sich, kein niedermetzelnder Hagel. Ja, selbst der Angriff auf die »Emmanuelle« hatte aufgehört.
    Hatten sie sich an drei Opfern übersättigt? Oder war es die Gegenwart des Schaf efütterers, eines Unschuldigen, eines Dieners dieser eigenwilligen Toten, die mich letztlich vor ihren Wutausbrüchen beschützen würde?
    Das Ruderboot war vom Strandkies herunter. Wir tanzten auf dem Rücken schlaffer Wellen, bis wir für die Riemen weit genug im Tiefen waren. Dann pullten wir weg von der Küste, und mein Retter saß mir gegenüber und ruderte auf Teufel komm raus, die Stirne betaut von frischen Schweißperlen, die sich mit jedem Ruderschlag vervielfältigten.
    Der Strand entschwand. Man ließ uns frei. Der Schafefütterer schien sich etwas zu entspannen. Er starrte zu der trüben Schmutzwasserlache in der Mitte des Bootsbodens hinunter und holte ein halbes Dutzend mal tief Luft. Dann schaute er auf zu mir, sein ausgebranntes Gesicht war völlig ausdrucksleer.
    »Es mußte ja eines Tages so kommen«, sagte er mit leiser, schleppender Stimme. »Irgend jemand mußte unsere Art zu leben zunichte machen, den Rhythmus durchbrechen.«
    Das Vor- und Zurückziehen der Riemen wirkte wie ein Sedativ.
    Ich wollte schlafen, mich in das Segeltuch einwickeln, auf dem ich saß, und vergessen. Der Strand hinter uns war eine ferne Linie. Die »Emmanuelle« konnte ich nicht sehen.
    »Und wo geht’s hin?« fragte ich.
    »Zurück nach Tiree«, antwortete er. »Wer’n sehn, was sich da machen läßt. Rausfinden, wie man’s eventuell wiedergutmachen kann, wie man ihnen wieder zu ‘nem gesunden Schlaf verhelfen kann.«
    »Essen sie die Schafe?«
    »Was soll den Toten Nahrung? Nein. Nein, sie haben keinen Bedarf an Schaffleisch. Sie nehmen die Vierbeiner als Geste des Gedenkens.«
    Des Gedenkens. Ich nickte.
    »Das ist unsre Art, sie zu betrauern …«
    Er hörte auf zu rudern, zu betrübt, um seine Erläuterung zu Ende zu führen, und zu erschöpft, um mehr zu tun, als uns von der Flut nach Hause tragen zu lassen. Ein inhaltsloser Augenblick verging.
    Dann das Kratzen.
    Ein Mäuselaut, nicht mehr, ein Scharren an der Unterseite des Bootes, wie wenn einer mit den Fingernägeln, um Einlaß bittend, an den Planken schabte. Nicht einer - viele. Das Geräusch ihres inständigen Bittens vervielfachte sich: das sachte Schleifen und Streifen verwester Nagelhaut über das Holz hin.
    Und wir im Boot rührten uns nicht, sprachen nicht, glaubten es nicht. Auch als wir das Schlimmste hörten - wir glaubten das Schlimmste nicht.
    Ein Platschen von steuerbord her. Ich drehte mich um, und er kam auf mich zu, starr und steif im Wasser, von unsichtbaren Puppenspielern emporgetragen wie eine Galionsfigur. Es war Ray, sein Körper übersät mit mörderischen Quetschungen und Schnitten: zu Tode gesteinigt und dann wie ein kreuzfideles Maskottchen, wie ein Machtbeweis, herbeigeschafft, um uns in Angst und Schrecken zu versetzen. Es war beinahe so, als ob er auf dem Wasser wandelte: Die Füße knapp von der Dünung verborgen, die Arme lose herunterbaumelnd, wurde er Richtung Boot befördert. Ich sah in sein Gesicht: zerfetzt und zertrümmert, ein Auge fast geschlossen, das andere aus seiner Höhle geschmettert.
    Zwei Meter vom Boot entfernt ließen ihn die Puppenspieler ins Meer zurücksinken, wo er in einem rosa Wasserwirbel verschwand.
    »Ihr Gefährte?« fragte der Schafefütterer.
    Ich nickte. Er mußte vom Heck der »Emmanuelle« ins Meer gestürzt sein. Nun war er wie sie ein Ertrunkener. Sie hatten ihn bereits als ihr Spielzeug eingefordert. Immerhin, Spiele mochten sie also doch! Sie zerrten ihn vom Strand wie Kinder, die einen Spielkameraden abholen kommen, darauf

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