Das 3. Buch Des Blutes - 3
Hierherverfrachtet vom Golfstrom. Offenbar schleust sie die Strömung durch die Meerengen und schwe mmt sie in dieser Gegend hier an.«
»Schwemmt sie an?« sagte Angela.
»So steht’s hier.«
»Aber jetzt doch nicht mehr.«
»Bin sicher, der eine oder andere Fischer findet hier noch immer sein Grab«, erwiderte Ray.
Jonathan war aufgestanden und starrte aufs Meer hinaus. Das Blut war vom Körper abgewaschen. Seine Hand beschirmte seine Augen, während er über das blaugraue Wasser hinausschaute, und ich folgte seinem Blick, wie ich seinem Zeigefinger gefolgt war. Hundert Meter weit draußen war jener Seehund oder Wal oder was es auch war wieder aufgetaucht und wälzte sich im Wasser. Manchmal, wenn sich das Ding drehte, warf es eine Flosse hoch wie den Arm eines Schwimmers und gab winkend ein Zeichen.
»Wie viele Menschen sind hier bestattet?« fragte Angela nonchalant. Die Tatsache, daß wir auf einem Grab saßen, schien sie absolut nicht aus der Ruhe zu bringen.
»Hunderte wahrscheinlich.«
»Hunderte?«
»In dem Buch steht bloß was von >vielen Toten<.«
»Und stecken sie sie in Särge?«
»Woher soll ich das wissen?«
Was ko nnte er sonst sein, dieser gottverlassene Hügel, außer ein Friedhof? Ich betrachtete die Insel mit neuen Augen, wie wenn ich sie gerade als das erkannt hätte, was sie war. Jetzt hatte ich einen Grund, von ihrem buckligen Rücken, ihrem verdreckten Strand, ihrem Pfirsichgeruch angewidert zu sein.
»Möcht’ wissen, ob sie sie überall begraben haben«, sinnierte Angela, »oder bloß auf dem Gipfel des Hügels, wo wir die Schafe gefunden haben? Wahrscheinlich bloß auf dem Gipfel, wo das Wasser nicht hinkommt.«
Ja, Wasser hatten sie wahrscheinlich übergenug: ihre armen grünen Gesichter von Fischen zernagt, ihre Uniformen verfault, ihre Hundemarken von Algen überkrustet. Was für Tode, und schlimmer noch, was für Reisen nach dem Tod in Trupps von Leichenkameräden den Go lfstrom entlang bis zu dieser freudlos-rauhen Landung. Ich sah sie vor meinem geistigen Auge, die Leiber der Soldaten, jeder Laune der Gezeiten hilflos ausgeliefert, hin und her getragen in einer schlammigen Brechergischt, bis sich irgendein Körperteil zufällig an einem Felsen verfing und das Meer die Macht über sie verlor. Mit jeder zurückweichenden Welle aufgedeckt, teigig und in Lake geliert, ausgespien von der See, um eine Weile zu stinken und von Möwen kahlgeschält zu werden.
Urplötzlich hatte ich den morbiden Wunsch, im Besitz dieses Wissens wieder am Strand herumzuwandern und die Kiesel mit dem Fuß umzudrehen, in der Hoffnung, diesen oder jenen Knochen ans Licht zu kicken.
Während der Gedanke sich formte, traf mein Körper bereits die Entscheidung. Ich stand — ich kletterte von der »Emmanuelle«
herunter.
»Wo willst’n hin?« sagte Angela.
»Jonathan«, murmelte ich und betrat die Insel.
Der Gestank war jetzt eindeutiger, purer: Das war der ausgereifte Wohlgeruch der Toten. Womöglich fanden ertrunkene Männer, wie Ray behauptet hatte, hier noch immer ihr Grab, der Länge nach flach unter den Steinhaufen gezwängt. Der unvorsichtige Sportsegler, der leichtsinnige Schwimmer, das Gesicht mit Wasser ausgelöscht. Die Strandfliegen zu meinen Füßen waren jetzt weniger schwerfällig. Anstatt sich zertreten zu lassen, schwirrten und summten sie mit einer neuen Begeisterung für das Leben meinen Schritten voraus.
Jonathan war nicht zu sehen. Seine Shorts lagen noch auf den Steinen am Ufer, er aber war verschwunden. Ich sah aufs Meer hinaus: nichts; kein auf und ab tanzender Kopf; kein sich im Wasser rekelndes, Zeichen machendes Etwas.
Ich rief seinen Namen.
Meine Stimme schien die Fliegen aufzuregen; in wimmelnden Wolken stoben sie auf. Jonathan gab keine Antwort.
Ich begann, den Meeressaum entlangzuwandern, hin und wieder erwischte eine leerlaufende Welle meine Füße, ansonsten blieben sie unberührt. Mir wurde bewußt, daß ich Angela und Ray nichts von dem toten Schaf gesagt hatte. Vielleicht war das ein Geheimnis zwischen uns vieren: Jonathan, mir und den zwei Überlebenden in der Hürde.
Dann sah ich ihn: an die dreißig Meter vor mir, seine Brust weiß, breit und sauber, jedes Tüpfchen Blut weggewaschen.
Jetzt ist es ein Geheimnis, dachte ich.
»Wo warst du?« rie f ich.
»Hab’s rausgelaufen«, rief er zurück.
»Was rausgelaufen?«
»Zuviel Gin.« Er grinste.
Ich erwiderte das Lächeln, von innen heraus. Er hatte in der Kombüse gesagt, er liebe mich. Das
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