Das 5. Buch des Blutes - 5
hörte sie jemanden auf der Schwelle flüstern. Eine Frauenstimme.
Helen rührte sich nicht. Sie waren verrückt, diese Leute. Die ganze Zeit schon wußten sie, was durch Helens Gegenwart im Butts-Block auf den Plan gerufen wurde, und sie hatten ihn beschützt - diesen honigsüßen Psychopathen; ihn mit einem Bett und einem Bonbonopfer versorgt, ihn vor neugierigen Augen versteckt und ihr Schweigen gewahrt, als er ihnen Blut vor die Haustür brachte. Selbst Anne-Marie, trockenen Auges in der Diele ihres Hauses, im vollen Bewußtsein, daß ihr Kind tot und 68
nur wenige Meter weit weg war.
Das Kind! Das war das Beweisstück, das sie dringend brauchte. Irgendwie hatten sie es heimlich arrangiert, die Leiche aus dem Sarg herauszubekommen (was hatten sie statt dessen hineingelegt: einen Hund?), und sie hierher - zum Tempel des Bonbonverkäufers - gebracht, als Spielzeug oder als Geliebte. Sie würde den kleinen Kerry mitnehmen - zur Polizei - und die ganze Geschichte erzählen. Was die davon auch glaubten - wahrscheinlich nur sehr wenig -, die Tatsache der Kinderleiche war unbestreitbar. Auf diese Weise würden zumindest einige der Verrückten für ihr Komplott büßen müssen. Büßen für das, was sie durchgemacht hatte.
Das Geflüster an der Tür hatte aufgehört. Jetzt bewegte sich jemand auf das Schlafzimmer zu. Ein Licht brachte er nicht mit. Helen machte sich klein, hoffte, sie könnte einer Entdeckung entgehen.
Eine Gestalt erschien in der Türöffnung. Die Düsternis war für Helen zu undurchdringlich, um mehr als eine schlanke Gestalt auszumachen, die sich bückte und ein Bündel vom Boden aufhob. Herabfallendes blondes Haar wies den Neuankömmling als Anne-Marie aus. Das Bündel, das sie gerade aufhob, war zweifellos Kerrys Leiche. Ohne in Helens Richtung zu schauen, machte die Mutter kehrt und begab sich aus dem Schlafzimmer hinaus.
Helen lauschte, wie sich die Schritte durch das Wohnzimmer entfernten. Behende stand sie auf und ging zum Flur hinüber. Von dort konnte sie verschwommen Anne-Maries Umriß im Eingang der Maisonette erkennen. Im Hof dahinter brannten keine Lichter. Die Frau verschwand, und Helen folgte ihr so schnell sie konnte, den Blick auf die Tür vor ihr geheftet.
Sie strauchelte einmal und noch einmal, erreichte aber die Tür rechtzeitig, um draußen in der Nacht Anne-Maries ver-schwommene Konturen zu erkennen.
Sie trat aus der Maisonette ins Freie. Es war empfindlich kühl; kein Stern am Himmel. Alle Lichter auf den Balkonen und Korridoren waren aus, auch in den Wohnungen brannten keine; nicht einmal das Flimmern eines Fernsehers. Der Butts-
Block war ausgestorben.
Sie zögerte, ehe sie die junge Frau weiterverfolgte. Warum machst du dich jetzt nicht aus dem Staub, flüsterte ihr die Feig-heit ein, und siehst zu, daß du zum Wagen zurückfindest? Aber wenn sie das täte, hätten die Verschwörer Zeit, den Leichnam des Kindes beiseite zu schaffen. Wenn sie dann mit der Polizei hierher zurückkam, gäbe es nur verschlossene Lippen und Achselzucken, und ihr würde man sagen, daß sie sich die Leiche und den Bonbonverkäufer eingebildet habe. All die Schrecken, die ihr widerfahren waren, würden sich wieder in Gerücht auflösen. In Worte an einer Wand. Und jeden Tag, den sie von jetzt an lebte, würde sie sich dafür hassen, nicht der gesunden Vernunft gefolgt zu sein.
Sie setzte Anne-Marie nach. Die ging nicht an der Innenseite des Häuserkarrees entlang, sondern bewegte sich auf den Mittelpunkt des Rasens im Zentrum des Hofes zu. Zum Scheiterhaufen! Ja, zum Scheiterhaufen! Drohend ragte er jetzt vor Helen auf, schwärzer als der Nachthimmel. Sie konnte grade noch Anne-Maries Gestalt ausmachen, die sich zum Rand der aufgestapelten Bauholztrümmer und Möbelteile bewegte und sich dann duckte, um in das Innere hineinzukommen. Auf die Art planten sie also, das Beweisstück verschwinden zu lassen. Das Kind zu begraben war nicht sicher genug; aber es einzuäschern und die Knochen zu zerstampfen - wer würde das je erfahren?
Sie stand ein Dutzend Meter von der Pyramide entfernt und schaute zu, wie Anne-Marie wieder herauskletterte und wegging; ihre Gestalt entschwand in der Dunkelheit.
Rasch bewegte sich Helen durch das hohe Gras und machte
auch bald die schmale Lücke inmitten der aufgetürmten Bauholzteile ausfindig, in die Anne-Marie den Körper hineinbugsiert hatte. Sie glaubte, die bleiche Form erkennen zu können; sie war in einen Hohlraum gelegt worden. Sie konnte sie jedoch
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