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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Süße, die er ihr anbot, war Leben ohne zu leben: tot zu sein, aber überall in der Erinnerung fortzudau-ern; unsterblich in Gerede und Graffiti.
    »Sei mein Opfer«, sagte er.
    »Nein…« murmelte sie.
    »Ich werd’ es dir nicht aufdrängen«, antwortete er, der vollendete Gentleman. »Ich werd’ dich nicht zum Sterben zwingen. Aber denk nach. Denke. Wenn ich dich hier umbringe - wenn ich dich aufhake…« Mit seinem Haken zeichnete er die Bahn der versprochenen Wunde nach. Sie verlief von der Scham bis zum Hals. »Stell dir vor, welch herausragende Rolle dieser Ort in ihren Unterhaltungen spielen würde… Wie sie im Vorbeigehen auf ihn hinweisen und sagen würden: >Sie ist da gestorben; die Frau mit den grünen Augen.< Dein Tod wäre ein Gleichnis, um Kinder damit einzuschüchtern. Verliebte würden ihn als Vorwand benutzen, sich enger aneinanderzuklammern…«
    Sie hatte recht gehabt: Dies war eine Verführung.
    »War Ruhm jemals so leicht zu haben?« fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Lieber soll man mich vergessen«, antwortete sie, »als daß man sich auf diese Weise an mich erinnert.«
    Er zuckte kaum merklich mit den Achseln. »Was wissen die Guten schon«, sagte er, »außer dem, was die Bösen sie durch ihre Exzesse lehren?« Er hob seine Hakenhand. »Ich sagte, ich 66
    will dich nicht zum Sterben zwingen, und ich steh’ zu meinem Wort. Erlaub mir aber wenigstens, dich zu küssen…«
    Er bewegte sich auf sie zu. Sie murmelte irgendeine absurde Drohung, die er ignorierte. Das Gesumm in seinem Körper hatte an Lautstärke zugenommen. Die Vorstellung, mit seinem Körper in Berührung und in unmittelbare Nähe der Insekten zu kommen, war gräßlich. Sie zwang ihre bleischweren Arme hoch, um sich seiner zu erwehren.
    Sein gespenstisches Gesicht verfinsterte das Porträt an der Wand. Sie konnte sich nicht dazu bringen, ihn zu berühren, und wich statt dessen schrittweise zurück. Das Geräusch der Bienen schwoll an; einige waren in ihrer Aufregung seinen Schlund heraufgekrochen und flogen aus seinem Mund. Krabbelnd schwirrten sie um seine Lippen, in seinen Haaren.
    Wieder und wieder bat sie ihn, sie zufriedenzulassen, aber er war durchaus nicht bereit einzulenken. Schließlich blieb ihr nichts mehr, wohin sie hätte zurückweichen können; sie stand mit dem Rücken an der Wand. Sich gegen die Stiche wappnend, legte sie die Hände auf seinen wimmelnden Brustkorb und schob. Im gleichen Augenblick schnellte seine Hakenhand vor und um Helens Nacken herum, ritzte dabei die gerötete Haut ihres Halses auf. Sie spürte, wie Blut herausquoll, war sich schon dessen gewiß, daß er ihr die Schlagader mit einem einzigen Streich aufreißen werde. Aber er hatte sein Wort gegeben. Und er hielt es.
    Die Bienen, durch diese plötzliche Aktivität wild geworden, waren überall. Sie spürte, wie sie sich auf ihr bewegten, auf der Suche nach Schmalzhäppchen in ihren Ohren und Zucker an ihren Lippen. Sie unternahm keinen Versuch, sie wegzuscheuchen. Der Haken war an ihrem Hals. Bei der kleinsten Bewegung würde er sie verwunden. Sie saß in der Falle, wie in den Alpträumen ihrer Kindheit, jede Chance zu entkommen war ausgeschaltet. Wenn der Schlaf sie in eine derart hoffnungslose 67
    Lage gebracht hatte - ringsum die Ungeheuer, die nur darauf warteten, sie Glied um Glied zu zerfleischen -, blieb noch ein letzter Trick. Loszulassen; jeglichen Überlebenswunsch aufzugeben und ihren Leib dem Dunkel zu überantworten. Jetzt, da sich das Gesicht des Bonbonverkäufers an ihres drängte und das Bienengesumm sogar ihr eigenes Atmen übertönte, spielte sie diesen geheimen Trumpf aus. Und so sicher wie im Traum waren das Zimmer und der Dämon übermalt und verschwunden.
    Aus Farbglanz erwachend, kam sie im Dunkel zu sich.
    Mehrere schreckensvolle Augenblicke verstrichen, in denen sie nicht wußte, wo sie war, und dann ein paar weitere, in denen sie sich erinnerte. Aber körperlich verspürte sie keinerlei Schmerz. Sie faßte sich an den Hals; außer der Schramme von dem Haken war er unversehrt. Sie bemerkte, daß sie auf der Matratze lag. War sie mißbraucht worden, während sie in Ohnmacht lag? Behutsam untersuchte sie ihren Körper. Sie blutete nicht; ihre Kleider waren nicht in Unordnung. Der Bonbonverkäufer hatte sich, wie es schien, lediglich seinen Kuß geholt.
    Sie setzte sich auf. Durch das vernagelte Fenster kam äußerst wenig Licht - und keines von der Haustür. Also war sie vielleicht zu. Aber nein; eben jetzt

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