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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Dunkelheit zu starren! Von drinnen kam kein Laut. Der Hund war bestimmt davongelaufen; entweder das, oder verendet. Was konnte schon groß passieren, wenn sie ein letztes Mal hineinging, nur um sich das Gesicht an der Wand und den dazugehörigen Spruch anzusehen?
    Süßes für die Süße. Sie hatte nie die ursprüngliche Bedeutung dieses Satzes nachgeschlagen. Macht nichts, dachte sie.
    Was immer sein Sinn sein mochte, hier war er radikal verwandelt, wie alles sonst; sie mit eingeschlossen. Ein paar Sekunden lang stand sie im vorderen Zimmer, um die bevorstehende Konfrontation in Ruhe auszukosten. In weiter Ferne hinter ihr kreischten die Kinder wie irre Vögel.
    Sie schritt über einen Verhau aus Möbelstücken auf den kurzen, Wohn- und Schlafzimmer verbindenden Korridor zu, schob den entscheidenden Moment noch immer hinaus. Ihr Herz klopfte wie wild; ein Lächeln spielte um ihre Lippen.
    Und da! Endlich! Drohend tauchte das Porträt vor ihr auf, unwiderstehlich wie immer. Sie machte in dem schummrigen Zimmer einige Schritte rückwärts, um das Bild in seiner ganzen Größe bewundern zu können, und verfing sich dabei mit dem Absatz auf der Matratze, die noch immer in der Ecke lag.
    Helen blickte flüchtig nach unten. Die verwahrloste Bettunterlage war umgedreht worden und präsentierte ihre unzerrissene Seite. Einige Decken und ein fetzenumhülltes Kissen waren darüber geworfen. Zwischen den Falten der zuoberst liegenden Decke glitzerte etwas. Helen bückte sich hinab, um es sich näher anzusehen, und fand dort eine Handvoll Süßigkeiten - Pralinen und Sahnebonbons -, in Glanzpapier gewickelt. Und darunter verstreut, weder so ansprechend noch so süß, ein Dutzend Rasierklingen. Auf mehreren war Blut. Sie richtete sich wieder auf und wich vor der Matratze zurück, und während sie dies tat, drang aus dem anderen Zimmer ein Summen an ihr Ohr.
    Sie drehte sich um, und das Licht im Schlafzimmer verringerte sich, als eine Gestalt den Schlund zwischen ihr und der Außenwelt betrat. Da sich der Mann in der Türöffnung als Silhouette gegen das Licht abhob, konnte Helen ihn kaum sehen, aber sie roch ihn. Er roch wie Zuckerwatte, und das Summen war um ihn oder in ihm.
    »Ich wollt’ mir hier…« sagte sie, »…nur das Bild anschaun.«
    Das Gesumm ging weiter, Geräusch eines verträumten Nachmittags, weit von hier. Der Mann in der Türöffnung rührte sich nicht.
    »Also…« sagte sie, »ich hab’ gesehen, was ich sehen wollte.«
    Sie hoffte verzweifelt, daß ihre Worte ihn dazu bewegen würden, beiseite zu treten und sie vorbeizulassen, aber er rührte sich nicht, und sie fand nicht den Mut, ihn herauszufordern, indem sie auf die Tür zutrat.
    »Ich muß gehen«, sagte sie, wohl wissend, daß, obwohl sie sich größte Mühe gab, Angst zwischen jede Silbe sickerte. »Ich werd’ erwartet…«
    Das war nicht ganz unwahr. Heut abend waren sie alle ins Appollinaires zum Dinner eingeladen. Aber das war erst um acht, in vier Stunden. Man würde sie noch lange nicht vermissen. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen«, sagte sie.
    Das Summen war ein wenig leiser geworden, und in die relative Stille hinein sprach der Mann in der Türöffnung. Seine Stimme, ohne jede Betonung, war fast so süß wie sein Duft.
    »Kein Grund, jetzt schon zu gehen«, hauchte er.
    »Ich bin verabredet… verabredet…«
    Obwohl sie seine Augen nicht sehen konnte, spürte sie sie auf sich, und das machte sie schlaftrunken, wie dieser Sommer, 62
    der in ihrem Kopf sang.
    »Ich bin deinetwegen hier«, sagt er.
    Sie wiederholte die vier Worte in ihrem Kopf. Ich bin
    deinetwegen hier. Wenn sie als Drohung gemeint waren, so klangen sie mit Sicherheit nicht danach.
    »Ich kenn’ Sie… doch gar nicht«, sagte sie.
    »Nein«, murmelte der Mann.
    »Aber du hast mich angezweifelt.«
    »Angezweifelt?«
    »Du hast dich nicht mit den Geschichten zufriedengegeben, mit dem, was sie auf die Wände geschrieben haben. Also war ich gezwungen zu kommen.«
    Die Schläfrigkeit verlangsamte Helens Denken zwar, aber das Wesentliche von dem, was der Mann sagte, erfaßte sie.
    Daß er eine mythische Gestalt sei und sie ihn, indem sie seine Existenz in Zweifel zog, gezwungen habe, seine Pranke zu zeigen. Unwillkürlich blickte Helen hinunter auf seine Hände.
    Eine davon fehlte. An ihrer Stelle: ein Haken.
    »Ganz ohne Beschuldigungen wird’s nicht abgehen«, ließ er sie wissen. »Sie werden sagen, deine Zweifel haben unschuldiges Blut vergossen. Aber ich sage - wozu ist

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