Das 5. Buch des Blutes - 5
Blut da, wenn nicht zum Vergießen? Und mit der Zeit wird die Überwachung aufhören. Die Polizei wird abziehen, die Kameras wird man auf einen neuen Greuel richten, und die Leute hier werden sich wieder ungestört Geschichten vom Bonbonverkäufer erzählen können.«
»Bonbonverkäufer?« sagte sie. Ihre Zunge brachte dieses schuldlose Wort kaum zustande.
»Ich bin deinetwegen hier«, murmelte er so sanft, daß es schon an Verführung grenzte. Und mit diesen Worten bewegte
er sich durch den Gang und ins Licht.
Sie kannte ihn, ohne Zweifel. Sie hatte schon längst seine Bekanntschaft gemacht, hier, in diesem Domizil der Schrecken.
Es war der Mann an der Wand. Der Maler seines Porträts war kein wirrer Phantast gewesen. Jedes ungewöhnliche Detail des Bildes, das da über sie hinwegheulte, hatte sein Pendant in der Gestalt des Mannes, den sie jetzt zu Gesicht bekam. Er war bunt bis zur Geschmacklosigkeit: sein Fleisch ein wächsernes Gelb, seine schmalen Lippen blaßblau; seine irren Augen funkelten, als ob ihre Iris mit Rubinen besetzt wäre. Seine Jacke war aus Flicken zusammengestückelt, seine Hose ebenso. Ja, eigentlich sah er fast lächerlich aus, mit seinem blutbefleckten Narrenkleid und dem Hauch Rouge auf seinen gelbsüchtigen Wangen. Aber die Menschen waren nun mal oberflächlich. Sie brauchten die Schau und den faulen Zauber, um ihr Interesse wachzuhalten. Wunder; Morde; Dämonen, die ausgetrieben und Steine, die von Gräbern weggewälzt werden. Der billige Glamour verdarb den dahinter hegenden Sinn nicht. In der Naturgeschichte des Geistes war es immer nur das schillernde Gefieder, das die Menschengattung dazu bewegte, sich mit ihrem geheimen Selbst zu vereinen.
Und Helen war beinah hingerissen. Von seiner Stimme, von seinen Farben, vom Gesumm aus seinem Körper. Sie gab sich jedoch alle Mühe, der Verzauberung zu widerstehen. Ein Monster war hier zugegen, hinter der Fassade dieser betörenden Zurschaustellung; sein Satz Rasierklingen war zu ihren Füßen, noch naß von Blut. Würde es zögern, ihr die Kehle aufzuschlit-zen, wenn es sie einmal in die Finger bekommen hatte?
Als der Bonbonverkäufer nach ihr langte, ging sie zu Boden, raffte die Decke auf und schleuderte sie nach ihm. Ein Regen aus Rasierklingen und Konfekt rieselte auf seine Schultern. Die Decke folgte und nahm ihm die Sicht. Aber ehe Helen die Gelegenheit ergreifen konnte, an ihm vorbeizugleiten, rollte
das Kissen, das auf der Decke gelegen hatte, vor sie hin.
Es war überhaupt kein Kissen. Was immer der trostlose weiße Sarg im Leichenwagen enthalten haben mochte, es war nicht die Leiche vom kleinen Kerry. Die lag hier, zu ihren Füßen, das blutleere Gesicht zu ihr hinaufgewandt. Der Kleine war nackt. Sein Körper übersät von den Zeichen der eifrigen Zuwendung des Dämons.
In den zwei Herzschlägen, die Helen brauchte, um diesen letzten Horror zu registrieren, warf der Bonbonverkäufer die Decke ab. Bei der Anstrengung, aus ihren Falten freizukommen, waren die Knöpfe seines Jacketts aufgegangen, und Helen sah - obwohl ihre Sinne sich dagegen auflehnten -, daß der Inhalt seines Rumpfs weggefault und der Hohlraum jetzt von einem Bienenvolk bewohnt war. Sie durchschwärmten das Gewölbe seiner Brust und überzogen in wimmelnder Masse die Fleischüberbleibsel, die dort hingen. Er lächelte über Helens unverhohlenen Ekel.
»Süßes für die Süße«, murmelte er und streckte seine Hakenhand nach ihrem Gesicht aus. Helen konnte kein Licht von der Außenwelt mehr sehen, noch die Kinder im Butts-
Block spielen hören. Es gab kein Entkommen in eine normalere Welt als diese. Der Bonbonverkäufer füllte ihre Sicht aus; ihre erschöpften Glieder hatten keine Kraft, sich seiner zu erwehren. »Bring mich nicht um«, hauchte sie.
»Glaubst du an mich?« sagte er.
Sie nickte kaum merklich. »Wie sollte ich nicht?« sagte sie.
»Warum willst du dann leben?«
Sie begriff nicht, und da sie Angst hatte, ihre Unwissenheit könne sich als tödlich erweisen, sagte sie nichts.
»Wenn du nur ein wenig von mir lernen wolltest…« sagte der Dämon, »… würdest du nicht um dein Leben betteln.«
Seine Stimme war zu einem Flüstern abgesunken. »Ich bin ein Gerücht«, summte er ihr ins Ohr. »Es ist ein seliger Zustand, glaub mir. In den Träumen von Menschen zu leben; an Straßenecken geflüstert zu werden; aber nicht sein zu müssen. Be-greifst du?«
Ihr matter Leib begriff. Ihre Nerven, der Überreizung überdrüssig, begriffen. Die
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