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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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können. Es ging nur ein schwaches Lüftchen, aber es war der einzige Anhaltspunkt den sie hatte, und sie marschierte in die Richtung los, in der, wie sie hoffte, der Weg lag.
    Fünf zunehmend atemraubende Minuten trampelte sie die Hügel hinauf und hinunter, um nach Erklettern eines der Hänge unversehens nicht ihren Wagen, sondern eine Gruppe weißge-tünchter Gebäude zu erblicken - beherrscht von einem gedrungenen Turm und mit einer hohen Mauer eingefaßt wie ein Fort -, von denen sie auf ihren bisherigen Ausgucken nichts zu Gesicht bekommen hatte.
    Sofort schoß ihr durch den Kopf, daß dies der Ausgangspunkt des Davonlaufenden und seiner übereifrigen Bewunderer sein müsse, und daß es die Vernunft wahrscheinlich verbot, sich dem Ort zu nähern. Aber andererseits - würde sie, ohne daß ihr jemand die Richtung wies, nicht ewig in dieser Öde herumwandern und nie wieder zum Wagen zurückfinden? Außerdem wirkten die Gebäude beruhigend harmlos. Andeutungsweise lugte sogar Blattwerk über die hohen Mauern, was auf einen abgeschiedenen Garten im Innern schließen ließ; vielleicht bekäme sie dort zumindest etwas Schatten. Sie steuerte auf den Eingang zu.
    Erschöpft langte sie an dem schmiedeeisernen Tor an.
    Wieder einmal gestand sie sich das Ausmaß ihrer Erschlaffung erst ein, als die Erholung absehbar war. Nach dem mühseligen Marsch über die Hügel zitterten ihr die Schenkel und die Waden, als ob sie zu nichts mehr zu gebrauchen wären.
    Einer der großen Torflügel war halboffen, und sie trat ein.
    Der Hof dahinter war gepflastert und von Taubenkot
    gesprenkelt; mehrere der Missetäter saßen in einem Myrtenbaum und gurrten bei Vanessas Erscheinen. Vom Hof führten verschiedene überdachte Laufgänge in ein Gebäudelabyrinth. Das Abenteuer hatte Vanessas Spleen noch nicht gedämpft, und so folgte sie dem am wenigsten verheißungsvollen, der sie aus der Sonne in eine laue, von schlichten Holzbänken gesäumte Passage führte, und am anderen Ende hinaus in einen kleineren Hofbezirk.
    Hier fiel die Sonne auf eine der Mauern; in einer Nische derselben stand eine Statue der Jungfrau Maria - das allbekannte Kind, den Finger segnend erhoben, thronte auf ihrem Arm. Und jetzt, beim Anblick der Statue, rückten die Stücke dieses Geheimnisses an ihren richtigen Platz: die Abgelegenheit, die Stille, die Einfachheit der Höfe und Laufgänge - das hier war bestimmt eine religiöse Einrichtung.
    Vanessa war seit ihrer frühen Jungmädchenzeit gottlos und hatte in den dazwischenliegenden fünfundzwanzig Jahren selten die Schwelle einer Kirche überschritten. Jetzt, mit einund-vierzig, war sie über jeden Gesinnungswandel weit hinaus, und so fühlte sie sich hier doppelt als Eindringling. Aber schließlich suchte sie ja keine Zuflucht, oder? Nur eine Orientierungshilfe danach. Sie konnte fragen und gleich wieder verschwinden.
    Während sie über den sonnenbeschienenen Steinboden voranschritt, verspürte sie jene merkwürdige Befangenheit, aus der sie automatisch folgerte, daß man ihr nachspionierte. Diese Sensibilität hatte sich durch ihr Leben mit Ronald zu einem sechsten Sinn verfeinert. Seine lächerliche Eifersucht, die erst vor drei Monaten ihre Ehe beendet hatte, hatte bei ihm zu Techniken des Ausspionierens geführt, deren sich die Agenturen von Whitehall oder Washington nicht hätten zu schämen brauchen. Jetzt fühlte sie nicht ein, sondern mehrere Augenpaare auf sich. Sie blinzelte zu den schmalen Fenstern hinauf, die den Hof überschauten, und glaubte an einem von ihnen Bewegung zu erkennen, doch niemand machte sich die Mühe, zu ihr hinunterzurufen. Ein Stummheitsgebot vielleicht, ein so rigoros eingehaltenes Schweigegelöbnis, daß sie sich mit den Bewohnern in Zeichensprache verständigen mußte? Na gut, sei’s drum.
    Irgendwo hinter sich hörte sie das Geräusch laufender Füße;
    mehrere Paare, die auf sie zueilten. Und vom Laufgang her drang das Klirren des sich schließenden Eisentors zu ihr. Aus irgendeinem Grund kam ihr Herzrhythmus ins Stolpern und brachte ihr Blut in Aufruhr. Es schoß ihr ins Gesicht. Ihre geschwächten Beine begannen erneut zu schlottern.
    Sie drehte sich zur Quelle jenes eiligen Getrappels um, und dabei fiel ihr auf, daß sich der Kopf der steinernen Jungfrau um einen Bruchteil bewegte. Die blauen Augen waren Vanessa über den Hof gefolgt und folgten ihr jetzt unverkennbar in umgekehrter Richtung. Stocksteif blieb sie stehen; am besten nicht laufen, dachte sie, mit Unserer

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