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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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»Sah ich…«
    »Sahst was?« verlangte der Junge mit störrischem Gesichtsausdruck; welch leiser Anflug von Betroffenheit auch darin gelegen haben mochte, jetzt war er jedenfalls verschwunden. Vielleicht hatte auch er das Herannahen des Beamten gehört und sich gesagt, daß da nichts zu machen sei;
    kein Mittel, das Herannahen der Nacht aufzuhalten.
    »Was hast du gesehen?« beharrte Billy.
    Cleve seufzte. »Meine Mutter«, antwortete er.
    Der Junge verriet seine Erleichterung nur durch das dünne Lächeln, das um seine Lippen spielte.
    »Ja… ich sah meine Mutter. In voller Lebensgröße.«
    »Und es hat dich durcheinandergebracht, ja?«
    »Das tun Träume manchmal.«
    Der Officer war bei B. 3. 20. angekommen. »Licht aus in zwei Minuten«, sagte er im Vorbeigehen.
    »Du solltest ‘n paar mehr von diesen Pillen nehmen«, riet ihm Billy, legte dabei das Buch hin und ging zu seinem Bett hinüber. »Dann geht’s dir wie mir. Keine Träume.«
    Cleve hatte verloren. Er, der Erzbluffer, war von dem Jungen im Bluffen ausgetrickst worden und hatte jetzt die Folgen zu tragen. Er lag da, mit dem Gesicht zur Decke, und zählte die Sekunden ab, bis das Licht ausging, während unten der Junge sich auszog und zwischen die Laken schlüpfte.
    Noch war Zeit, aufzuspringen und den Beamten zurückzurufen; Zeit, seinen Kopf gegen die Tür zu schlagen, bis jemand käme. Aber was würde er sagen, um sein Theater zu rechtfertigen? Daß er schlimme Träume hatte? Wer nicht? Daß er sich vor der Dunkelheit fürchtete? Wer nicht? Sie würden ihm ins Gesicht lachen, ihm sagen, er solle sich wieder hinlegen, und er bliebe ohne jegliche Tarnung zurück bei dem Jungen und seinem Herrn, die an der Wand warteten. Diese Strategie brachte keine Sicherheit.
    Und das Beten ebensowenig. Er hatte Billy die Wahrheit gesagt, darüber, daß er Gott aufgegeben hatte, als die Gebete um das Leben seines Vaters nicht erhört worden waren. Aus solch göttlicher Unterlassung erwuchs der Atheismus; der Glaube konnte jetzt nicht wieder entfacht werden, wie abgrundtief Cleves Entsetzen auch war.
    Gedanken an seinen Vater führten unausweichlich zu Gedanken an seine Kindheit; wenige andere Themen hätten sein Bewußtsein hinreichend in Anspruch nehmen können, um ihn von seinen Ängsten loszueisen. Als das Licht schließlich
    gelöscht wurde, suchte sein verschrecktes Gemüt Zuflucht bei Erinnerungen. Sein Herzschlag verlangsamte sich; seine Finger hörten auf zu zittern, und schließlich beschlich ihn der Schlaf, ohne daß er davon das geringste mitbekam.
    Die seinem Wachbewußtsein zur Verfügung stehenden Ablenkungen standen seinem Unbewußten nicht zur Verfügung. Sobald er eingeschlafen war, wurde das liebevolle Sichentsinnen verbannt; die erinnerte Kindheit wurde ein Bestandteil der Vergangenheit, und er war wieder, mit blutigen Füßen, in dieser schrecklichen Stadt.
    Oder vielmehr an ihren Grenzen. Denn heute nacht folgte er nicht der vertrauten Route an dem georgianischen Haus und den daran anschließenden Mietskasernen vorbei, sondern wanderte statt dessen zu den Außenbezirken der Stadt, wo der Wind stärker war als je und die auf ihm daherwehenden Stimmen deutlich. Obwohl er bei jedem Schritt, den er machte, darauf gefaßt war, Billy und dessen dunklen Gefährten zu sehen, entdeckte er niemanden. Nur Schmetterlinge begleiteten ihn den Pfad entlang, leuchtend wie sein Uhrenzifferblatt. Sie ließen sich auf seinen Schultern und Haaren nieder wie Konfetti, flatterten dann wieder davon.
    Ohne Zwischenfall erreichte er den Stadtrand, blieb stehen und betrachtete forschend die Wüste. Über ihm zogen dicht geballt wie immer die Wolken mit der Majestät von Molochen dahin. Er hatte den Eindruck, daß die Stimmen heute nacht aus größerer Nähe kamen, und die Gefühlsausbrüche, die in ihnen laut wurden, weniger bedrückend waren als zuvor. Ob diese Abschwächung von ihnen selbst oder von seiner Reaktion auf sie herrührte, wußte er nicht zu sagen.
    Und dann, während er noch die Dünen und den Himmel betrachtete, hypnotisiert von ihrer Öde, hörte er einen Laut, schaute über die Schulter und erblickte einen lächelnden Mann in einer Kleidung, die sicherlich sein Sonntagsstaat war; er
    schlenderte aus der Stadt hinaus und auf Cleve zu. Er hatte ein Messer bei sich; das Blut daran und an seiner Hand und vorn an seinem Hemd war naß. Selbst als Träumender, also unverletzbar, war Cleve von dem Anblick eingeschüchtert und trat zurück - ein Wort der

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