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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Erinnerte ihn auch daran, daß die Dunkelheit eben jetzt wieder an der Seite der Welt hinaufkroch. Bei diesem Gedanken schien sein Magen zu seiner Kehle aufzusteigen.
    »Hast du mich gehört?« fragte der Junge.
    Cleve murmelte, daß er das habe.
    »Also, warum denn; warum die Bücher? Über Verdammnis und all das.«
    »Niemand sonst holt sie sich aus der Bücherei«, antwortete Cleve, der sich schwertat, Gedanken zu bilden, die sich sagen ließen, wenn die anderen, ungesagten, so viel fordernder waren.
    »Also glaubst du’s nicht?«
    »Nein«, antwortete er. »Nein; ich glaub’ kein Wort davon.«
    Der Junge verharrte eine Zeitlang in Schweigen. Cleve sah Billy zwar nicht an, doch er konnte ihn umblättern hören. Dann eine weitere, aber ruhiger geäußerte Frage; ein Bekenntnis.
    »Bekommst du jemals Angst? «
    Die direkte Frage schreckte Cleve aus seiner Trance auf. Die Unterhaltung war vom allgemeinen Gerede über Lesestoff zu einem eindeutig beziehungsreicheren Thema zurückgesprungen. Weshalb sollte Billy sich nach der Angst erkundigen, wenn er sich nicht gleichfalls fürchtete?
    »Wovor soll ich schon Angst haben?« fragte Cleve.
    Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie der Junge leicht mit den Achseln zuckte, ehe er antwortete. »Vor Dingen, die geschehen«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Dingen, über die man keine Kontrolle hat.«
    »Ja«, antwortete Cleve, der sich im unklaren darüber war, wohin dieser Meinungsaustausch führte. »Doch, natürlich.
    Manchmal habe ich schon Angst.«
    »Und was tust du dann?« fragte Billy. »Da kann man doch nichts tun, oder?« sagte Cleve. Seine Stimme war so verhalten wie die Billys. »An dem Morgen, an dem mein Vater starb, hab’ ich’s Beten aufgegeben.«
    Er hörte den sachten Schlag, als Billy das Buch zuklappte, und neigte den Kopf genügend schräg, um den Jungen ins Blickfeld zu bekommen. Billy konnte seine Erregung nicht
    völlig verbergen. Er hat Angst, sah Cleve; er will um keinen Deut mehr, daß es Nacht wird, als ich. Er fand den Gedanken beruhigend, daß sie sich beide fürchteten. Vielleicht gehörte der Junge nicht ganz dem Schatten; vielleicht konnte er Billy sogar dazu überreden, einen für sie beide gangbaren Ausweg aus diesem ausufernden Alptraum aufzuzeigen.
    Er setzte sich auf, so daß sein Kopf ein paar Fingerbreit von der Zellendecke entfernt war. Billy blickte von seinen Meditationen auf, sein Gesicht ein bleiches Oval zuckenden Muskelfleisches. Jetzt war die Zeit zum Reden, das wußte Cleve; jetzt, ehe in den Fluren die Beleuchtung abgeschaltet und die Zellen den Schatten ausgeliefert wurden. Dann gäbe es für Erklärungen keine Zeit mehr. Der Junge würde schon halb an die Stadt verloren sein und keiner Überredung mehr zugänglich.
    »Ich habe Träume«, sagte Cleve. Billy sagte nichts, erwiderte bloß hohläugig Cleves Blick. »Ich träum’ von einer Stadt.«
    Der Junge zuckte nicht zusammen. Freiwillig würde er offensichtlich nichts zur Erhellung beitragen; man würde ihm ordentlich zusetzen müssen, um ihn dazu zu bringen.
    »Weißt du, wovon ich rede?«
    Billy schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er obenhin. »Ich träume nie.«
    »Jeder hat Träume.«
    »Dann erinnere ich mich einfach nicht daran.«
    »An meine erinnere ich mich schon«, sagte Cleve. Jetzt, da er das Thema zur Sprache gebracht hatte, war er entschlossen, Billy keine Ausflüchte zu gönnen. »Und du kommst da drin vor. Du bist in dieser Stadt.«
    Und jetzt zuckte der Junge zusammen; nur ein trügerisches Rucken, aber genug, um Cleve die Gewißheit zu geben, daß er nicht in den Wind redete.
    »Was hat’s mit dem Ort auf sich, Billy?« fragte er.
    »Woher soll ich das wissen?« erwiderte der Junge, der gerade zum Lachen ansetzte, den Versuch dann aber wieder aufgab.
    »Doch klar, daß ich nichts drüber weiß, oder? Es sind deine Träume.«
    Ehe Cleve antworten konnte, hörte er die Stimme von einem Beamten, der sich die Zellenreihe entlangbewegte und allen empfahl, sich zur Nacht schlafen zu legen. Sehr bald würde die Beleuchtung gelöscht und er in dieser engen Zelle zehn Stunden lang eingesperrt sein. Mit Billy; und Phantomen…
    »Letzte Nacht…« sagte er, in großer Angst, ohne angemessene Vorbereitung zu erwähnen, was er gehört und gesehen hatte, aber in noch größerer Angst, einer weiteren Nacht an den Grenzen der Stadt ausgesetzt zu sein, allein in der Finsternis.
    »Letzte Nacht sah ich…« Er stockte. Warum wollten die Worte nicht kommen?

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