Das 5. Buch des Blutes - 5
Mann ihn bat.
Der Mörder nickte. »Natürlich nicht«, sagte er. »Ich hab’
nicht erwartet…«
Er wandte sich von Cleve ab und begab sich zum Backofen.
Hitze stieg flimmernd daraus auf und verwandelte die Herdplatte in eine Luftspiegelung. Beiläufig legte er eine seiner bla-senbedeckten Handflächen an die Ofentür und schloß sie; er war praktisch kaum damit fertig, als sie schon wieder knarrend aufging. »Wissen Sie überhaupt, wie lecker das ist, der Geruch von bratendem Fleisch?« sagte er, während er sich wieder der Ofentür zuwandte und sie ein zweites Mal zu schließen versuchte. »Kann mir da irgendwer einen Vorwurf draus machen?
Wirklich?«
Cleve überließ ihn seinem zusammenhanglosen Geschwafel;
falls ein Sinn dahintersteckte, dann war er es wahrscheinlich nicht wert, daß er sich damit herumplagte. Das Gerede von Tauschgeschäften und von Entkommen aus der Stadt: das ging über seinen Verstand.
Er wanderte weiter, ohne in die Häuser zu spähen. Er hatte es satt, hatte alles gesehen, was er sehen wollte. Sicher war der Morgen nahe, und auf dem Zellenflur würde die Glocke läuten.
Vielleicht sollte er sogar von selber wach werden und es mit dieser Tour für heute nacht genug sein lassen.
Während ihm dieser Gedanke in den Sinn kam, sah er das Mädchen. Es war nicht älter als sechs oder sieben Jahre, und es stand an der nächsten Kreuzung. Das war sicherlich kein Mörder. Er steuerte auf das Kind zu. Es wandte sich - entweder aus Scheu oder aus einem weniger gutartigen Beweggrundnach rechts und lief davon. Cleve folge. Bis er die Kreuzung erreicht hatte, war es schon weit die nächste Straße entlanggelaufen; wieder jagte er hinterher. Wie es in Träumen bei solchen Verfolgungen regelmäßig der Fall ist, trafen die Gesetze der Physik auf Verfolger und Verfolgtes nicht in gleicher Weise zu. Das Mädchen schien sich mühelos zu bewegen, während Cleve gegen eine sirupdicke Luft ankämpfte. Er gab jedoch nicht auf, sondern drängte weiter, wohin ihn das Mädchen auch führte. Bald befand er sich, in beträchtlicher Entfernung von jeder ihm mittlerweile bekannten Stelle, in einem Gewirr von Höfen und Gassen - alles, wie er annahm, Schauplätze des Blutvergießens. Im Unterschied zu den Hauptdurchgangsstraßen enthielt dieses Getto wenige komplette Räumlichkeiten, lediglich rudimentäre Geländeausschnitte: ein Grasstreifen, mehr rot als grün, ein Stück Gerüst, von dem eine Schlinge herunterhing, ein Erdhaufen.
Und jetzt, schlicht und einfach, eine Mauer. Das Mädchen hatte ihn in eine Sackgasse geführt; es selber war jedoch verschwunden, und er stand nun alleine vor einer kahlen Ziegelmauer, die stark verwittert war und ein schmales Fenster hatte. Er trat näher: offenkundig war er hierhergeführt worden, um da hineinzuschauen. Er spähte durch die drahtverstärkte
Scheibe, die auf seiner Seite von mehreren Schichten Vogelkot verschmutzt war - und starrte unvermutet in eine der Zellen in Pentonville. Ihm drehte sich der Magen um. Was für ein Spiel war das: aus einer Zelle hinaus- und in diese Traumstadt geführt, nur um wieder ins Gefängnis geführt zu werden? Aber ein paar Sekunden genauer Betrachtung sagten ihm, daß es nicht seine Zelle war. Es war die von Lowell und Nayler. Von ihnen waren die mit Tesafilm an die grauen Ziegel geklebten Bilder, von ihnen das über Boden und Wand und Bett und Tür verteilte Blut. Dies war ein weiterer Mordschauplatz.
»Allmächtiger Gott«, murmelte er. »Billy…«
Er wandte sich von der Mauer ab. Im Sand zu seinen Füßen paarten sich Eidechsen; der Wind, der Zugang zu diesem Getto fand, brachte Schmetterlinge. Während Cleve ihnen beim Tanzen zusah, läutete die Glocke im B-Trakt, und es war Morgen.
Es war eine Falle. Ihr Mechanismus war Cleve keineswegs klar - aber über ihren Zweck bestand für ihn kein Zweifel. Billy würde in die Stadt kommen; bald. Die Zelle, in der er einen Mord begangen hatte, erwartete ihn bereits. Und von all den scheußlichen Stätten, die Cleve in jener Ansammlung von Leichenhäusern gesehen hatte, war die winzige, in Blut schwimmende Zelle sicherlich die schlimmste.
Der Junge konnte nicht wissen, was für ihn vorbereitet war.
Sein Großvater hatte ihn durch Verschweigen über die Stadt belogen; er hatte Billy nicht erzählt, welche besonderen Quali-fikationen erforderlich waren, um dort zu existieren. Und weshalb? Cleve kam wieder auf die einseitige Unterhaltung, die er mit dem Mann in der Küche geführt
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