Das 5. Buch des Blutes - 5
Sprache fähig waren.
Billy sah, wie die Glieder herabfuhren, um nach ihm zu greifen, und erhob sich aus seiner Bauchlage, um ihnen zu entkommen, aber er war zu langsam. Cleve sah, wie Tait den stachelbewehrten Haken eines seiner Körperglieder um Billys Hals wickelte und den Jungen an sich zog. Blut schoß aus der zerschlitzten Luftröhre, und gleichzeitig der weinerliche Laut entweichender Luft.
Cleve schrie auf.
»Mit mir«, sagte Tait noch, bevor seine Worte in unverständliches Gesabber übergingen.
Plötzlich wurde die enge Sackgasse von Helligkeit durchflutet, und der Junge und Tait und die Stadt verblaßten.
Cleve versuchte, an ihnen festzuhalten, aber sie entglitten ihm, und an ihre Stelle trat eine andere handgreifliche Wirklichkeit: ein Licht, ein Gesicht (Gesichter) und eine Stimme, die ihn aus der einen Aberwitzigkeit heraus- und gleich darauf in die nächste hineinrief.
Die Hand des Arztes war auf seinem Gesicht. Sie fühlte sich feuchtkalt an.
»Wovon in aller Welt haben Sie geträumt?« fragte er, der komplette Idiot.
Billy war gegangen.
Von allen Geheimnissen, mit denen sich der Direktor sowie Devlin und die anderen Beamten, die in dieser Nacht Zelle B.
3. 20. betreten hatten, auseinandersetzen mußten, war das spurlose Verschwinden von William Tait aus einer unversehr-
ten Zelle das konsternierendste. Von dem Anblick, der bei Devlin dieses irre Gekicher ausgelöst hatte, wurde nichts erwähnt; es fiel leichter, an irgendeine kollektive Täuschung zu glauben, als daran, daß sie irgendeine objektive Wirklichkeit zu Gesicht bekommen hatten. Als Cleve versuchte, die Vorkommnisse dieser Nacht und der vielen Nächte, die ihr vorausgingen, in Worte zu fassen, reagierte man auf seinen von häufigem Weinen und Verstummen durchsetzten Monolog mit vorgeblichem Verstehen und Seitenblicken. Trotzdem erzählte er die Geschichte mehrere Male von vorn, ungeachtet der Herablassung seiner Zuhörer; und diese, die in seinen Irrsinnsfabeln zweifelsohne nach einem brauchbaren Hinweis auf die Natur von Billy Taits Houdini-Akt suchten, legten jedes Wort auf die Goldwaage.
Als sie in seinen Geschichten nichts fanden, was ihre Nachforschungen voranbrachte, verloren sie die Geduld mit ihm. Trost wurde durch Drohungen ersetzt. Sie wollten wissen - und ihre Stimmen wurde mit jeder Wiederholung der Frage lauter - wohin Billy gegangen sei. Cleve antwortete ihnen einfach so, wie er es eben verstand. »In die Stadt«, verriet er ihnen, »er ist ein Mörder, wissen Sie.«
»Und sein Körper?« fragte der Direktor. »Wo ist Ihrer Meinung nach sein Körper ?«
Cleve hatte keine Ahnung, und sagte das auch. Viel später erst, genaugenommen ganze vier Tage später - er stand gerade am Fenster und sah dem Gärtnertrupp zu, der die Pflanzen für diesen Frühling zwischen den Gebäudetrakten hin und her trug - erinnerte er sich an den Rasen.
Er suchte Mayflower auf, der in den B-Flügel zurückversetzt worden war und Devlins Platz wieder eingenommen hatte, und teilte dem Officer den Gedanken mit, der ihm in der Zwischenzeit gekommen war.
»Er ist in dem Grab«, sagte er. »Er ist bei seinem Großvater.
Rauch und Schatten.«
Sie gruben im Schutze der Nacht den Sarg aus, nachdem sie eine raffinierte Abschirmung aus Pfosten und Planen errichtet hatten, um die Prozedur neugierigen Augen vorzuenthalten;
und Lampen, hell wie der Tag, aber nicht so warm, richteten sich auf die Plackerei der Männer, die sich als Exhumierungskommando zur Verfügung gestellt hatten. Cleves Lösung für das Rätsel von Taits Verschwinden war fast überall auf Verwirrung gestoßen, aber keine - noch so absurde - Erklärung wurde bei einem derart widerspenstigen Geheimnis ignoriert.
So versammelten sie sich an der unbezeichneten Grabstelle, um Erde aufzuwerfen, die aussah, als sei sie fünf Dekaden lang nicht gestört worden: der Direktor, eine Abordnung von Vertretern des Innenministeriums, ein Pathologe und Devlin.
Einer der Ärzte, der glaubte, daß man Cleves krankhafter Selbsttäuschung am anschaulichsten entgegenwirken könne, wenn dieser sich den Inhalt des Sarges ansähe und seinen Irrtum mit eigenen Augen erkennen würde, überzeugte den Direktor davon, daß man auch Cleve unter die Zuschauer einreihen sollte.
Im engen Geviert von Edgar Taits Sarg gab es wenig, das Cleve nicht schon vorher gesehen hatte. Die Leiche des Mörders - hierher zurückversetzt (als Rauch vielleicht?), weder ganz Bestie noch ganz menschlich, und, wie es der
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