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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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zitterten wie Windhunde, die darauf warten, daß man sie starten läßt. Mit hämmerndem Herzen trug er Billy zu seinem Bett zurück und legte ihn hin. Nichts deutete darauf hin, daß er wieder zu Bewußtsein kam. Der Junge lag schlaff auf der Matratze, während Cleve sein Laken zerriß und ihn knebelte: Er stopfte dem Jungen einen Stoffknäuel in den Mund; mit diesem Knebel würde er keinen Mucks mehr von sich geben können.
    Dann machte er sich daran, Billy ans Bett zu binden. Dazu benutzte er seinen eigenen Gürtel und den des Jungen, ergänzt durch weitere behelfsmäßige Fesseln aus zerrissenen Laken. Er brauchte mehrere Minuten, um sein Werk zu vollenden.
    Während Cleve die Beine des Jungen miteinander verzurrte, kam Billy langsam zu sich. Er schlug flatternd, voller Verwirrung, die Augen auf. Dann, als er seine Lage begriff, begann er, den Kopf hin und her zu werfen; sonst konnte er nicht viel tun, um seinen Protest anzumelden.
    »Nein, Billy«, murmelte Cleve und warf dabei eine Decke über den gefesselten Körper, um den Tatbestand vor jedem Beamten, der vor morgen früh durch das Guckloch hereinschauen könnte, zu verbergen. »Heute nacht bringst du ihn nicht her. Alles, was ich gesagt habe, ist wahr, Junge. Er will raus, und er benutzt dich zur Flucht.« Cleve packte mit beiden Händen Billys Kopf und drückte ihm die Finger gegen die Wangen. »Er ist nicht dein Freund. Aber ich. Schon immer.« Billy versuchte, seinen Kopf aus Cleves Griff zu schütteln, doch vergeblich. »Verschwende deine Kräfte nicht«, riet ihm Cleve, »es wird ‘ne lange Nacht werden.«
    Er ließ den Jungen auf dem Bett liegen, ging zur gegenüberliegenden Wand hinüber und glitt an ihr hinunter in die Hocke, auf Beobachterposten. Er würde bis zur
    Dämmerung wach bleiben, und dann, wenn es etwas Licht gab, in dem er nachdenken konnte, würde er seinen nächsten Zug ausarbeiten. Im Augenblick war er zufrieden, daß sein plumpes Vorgehen funktioniert hatte.
    Der Junge hatte es aufgegeben, sich zur Wehr zu setzen; er hatte klar erkannt, daß die Fesseln zu gekonnt geknüpft waren, um sie zu lösen. Eine Art Ruhe senkte sich auf die Zelle herab: Cleve saß in dem Fleck Licht, das durch das Fenster fiel, der Junge lag in der Düsternis des unteren Betts und atmete gleichmäßig durch die Nase. Cleve warf einen Blick auf seine Uhr.
    Es war fünf vor eins. Wie lang bis zum Morgen? Er wußte es nicht. Fünf Stunden mindestens. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte ins Licht.
    Es hypnotisierte ihn. Die Minuten vertickten langsam, aber stetig, und das Licht änderte sich nicht. Hin und wieder kam ein Officer den Flur entlang, und Billy, der die Schritte hörte, begann dann sein Gezappel von neuem. Aber niemand schaute in die Zelle. Die beiden Häftlinge blieben ihren Gedanken überlassen: Cleve konnte sich fragen, ob je eine Zeit kommen würde, in der er den Schatten in seinem Nacken wieder los wäre; Billy konnte jeden Gedanken denken, der gefesselten Monstern eben in den Sinn kam. Und noch immer verstrichen die Tiefste-Nacht-Minuten, Minuten, die einem durchs Hirn schlichen wie gehorsame Schulkinder, die jeweils nächste immer schon der gegenwärtigen auf den Fersen, und nachdem sechzig vorbei waren, nannte man die Summe eine Stunde.
    Und die Dämmerung war um diese Spanne näher, nicht wahr?
    Aber der Tod ebenso, und vermutlich ebenso das Ende der Welt: dieser gloriose letzte Trumpf, von dem der Bischof so entzückt gesprochen hatte, wenn die toten Männer unter dem Rasen da draußen so frisch wie das gestrige Brot sich erheben und ihrem Schöpfer gegenübertreten würden. Und wie er so an die Wand gelehnt dasaß und Billys Ein- und Ausatmen lauschte und das Licht in der Scheibe und durch die Scheibe
    betrachtete, erkannte Cleve ohne jeden Zweifel, daß, selbst wenn er dieser Falle entkäme, dies nur einen zeitweiligen Aufschub bedeutete; daß diese lange Nacht, ihre Minuten, ihre Stunden, der Vorgeschmack einer längeren Nachtwache waren.
    Da verzweifelte er beinahe; fühlte, wie seine Seele in ein Loch versank, aus dem es anscheinend kein Entrinnen gab. Hier war die wirkliche Welt, erfaßte er unter Tränen. Nicht Freude, nicht Licht, nicht frohe Erwartung; nur dieses Harren in Unwissenheit, ohne Hoffnung, nicht einmal auf Angst, denn Angst stand nur denen zu, die Träume zu verlieren hatten. Das Loch war tief und düster. Er spähte aus ihm hinauf ins Licht, das durch das Fenster fiel, und seine Gedanken wurden zu einem

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