Das 5. Buch des Blutes - 5
einzigen scheußlichen Reigen. Er vergaß das Bett und den Jungen, der dort lag. Er vergaß die Fühllosigkeit, die sich in seinen Beinen ausgebreitet hatte. Er hätte, mit der Zeit, selbst den einfachen Akt des Atemholens vergessen, wäre da nicht der stechende Uringeruch gewesen, der ihn aus seinem Dämmerzustand rüttelte.
Er schaute Richtung Bett. Der Junge entleerte gerade seine Blase; aber diese Handlung war lediglich das Symptom von etwas völlig anderem. Unter der Decke bewegte sich Billys Körper auf ein Dutzend Arten, die seine Fesseln hätten verhindern sollen. Cleve brauchte einige Momente, um die Lethargie abzuschütteln, und noch weitere Sekunden, um klar zu erkennen, was geschah. Billy verwandelte sich.
Cleve versuchte, sich gerade aufzurichten, aber seine unteren Gliedmaßen waren von so langem Stillsitzen wie abgestorben. Er fiel fast nach vorn, quer durch die Zelle, und verhinderte seinen Sturz nur dadurch, daß er einen Arm ausstreckte und sich am Stuhl festhielt. Seine Augen waren auf die Düsternis des unteren Betts geheftet. Die Bewegungen wurden immer mehr und komplexer. Die Decke wurde weggeschleudert. Billys Körper, der darunter zum Vorschein kam, war bereits nicht mehr zu erkennen; derselbe schreckliche Vorgang, wie Cleve ihn schon einmal gesehen hatte, aber in umgekehrter Richtung. Materie, die sich in schwirrenden Wolken um den Körper sammelte und zu abscheulichen Formen gerann. Gliedmaßen und Organe, die aus dem Unaussprechlichen herbeizitiert waren, Zähne, die sich wie Nadeln formten und sogleich an ihre Stelle rückten, in einem bereits überdimensionalen und ständig weiter anschwellenden Kopf. Cleve flehte Billy an aufzuhören, aber mit jedem neuen Atemzug war weniger Menschsein vorhanden, an das man sich hätte wenden können. Die Stärke, die dem Jungen gefehlt hatte, wurde der Bestie bewilligt; sie hatte bereits fast alle Einengungen gesprengt und kämpfte sich eben jetzt vor Cleves Augen aus der letzten frei und rollte vom Bett herunter auf den Zellenboden.
Cleve wich zur Tür zurück, während er Billys veränderte Gestalt musterte. Er erinnerte sich an das Grausen seiner Mutter vor Ohrwürmern und sah etwas von diesem Insekt in der Anatomie des Gebildes: in der Art, wie es seinen schimmernden Rücken durchbog und dabei das komplizierte Ruderwerk seiner Unterleibssegmente bloßlegte. An anderen Stellen war dem Anblick durch keinerlei Analogie beizukommen. Der Kopf wimmelte von Zungen, die statt Lidern die Augen sauberleckten und ständig über die Zähne fuhren, um sie feucht zu halten. Aus triefenden Löchern in den Flanken des Wesens kam Kloakengestank. Doch selbst jetzt hielt sich noch ein Rest von etwas Menschlichem in dieser Abscheulichkeit, wobei sein vager Anklang lediglich dazu beitrug, die Verkommenheit des Ganzen zu steigern. Beim Anblick der Haken und Stacheln erinnerte sich Cleve an Lowells sich hochschraubenden Schrei - und spürte, wie seine eigene Kehle pulsierte, bereit, einen dementsprechenden Laut loszulassen, falls die Bestie sich gegen ihn wenden sollte.
Aber Billy hatte andere Absichten. Er begab sich - die Glieder in gräßlicher Anordnung - zum Fenster und kletterte
hinauf, drückte dabei seinen Kopf gegen die Scheibe wie ein Blutegel. Die Melodie, die er von sich gab, war nicht wie sein letzter Singsang - aber für Cleve bestand kein Zweifel, daß es dasselbe Herbeizitieren bedeutete. Er drehte sich zur Tür und begann, dagegen zu schlagen, in der Hoffnung, daß Billy zu sehr in seine Anrufung vertieft sei, um sich gegen ihn zu wenden, bevor Hilfe käme.
»Schnell! Um Himmels willen! Schnell!« Er schrie, so laut die Erschöpfung es zuließ, und blickte einmal flüchtig über die Schulter, um zu sehen, ob Billy ihn holen käme. Nein, er hielt noch immer das Fenster umklammert, obwohl seine Anrufung beinahe verstummt war. Ihr Zweck war erreicht. Die Zelle war unter der Fuchtel der Finsternis.
In Panik wandte sich Cleve wieder zur Tür und nahm sein Getrommel wieder auf. Jemand rannte jetzt den Flur entlang; er konnte Gebrüll und Verwünschungen aus anderen Zellen hören. »Lieber Gott, hilf mir!« brüllte er. An seinem Rücken konnte er einen Frosthauch spüren. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu erfahren, was hinter ihm vor sich ging. Wie der Schatten wuchs, die Wand sich auflöste, damit die Stadt und ihr Bewohner hereingelangen konnten. Tait war hier.
Cleve konnte die Gegenwart des Mannes spüren, riesenhaft und dunkel. Tait der
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