Das 5. Gebot (German Edition)
nicht, wie sie ursprünglich beabsichtigt hatte, im Haus ihrer Mutter schlief, das die Polizei mittlerweile freigegeben hatte. Vicky hatte dem rasch zugestimmt, sie mochte das Langtry Manor in Bournemouth wirklich gern, und wenn sie ehrlich zu sich war, war sie nicht sicher, ob sie sich allein in ihrem Elternhaus nach diesem entsetzlichen Verbrechen gruseln würde.
Auf Anweisung der Polizei hatte sie zusammen mit Onkel Willy nur sehr oberflächlich nach Wertgegenständen gesucht, die eventuell fehlen könnten. Dabei konnten sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ein Einbrecher bei ihrer Mum hätte suchen können. Außer einer Perlenkette, den Eheringen und einem alten Ring mit einem Amethyst war ihrer Einschätzung nach nichts verschwunden. Mehr Wertsachen besaß ihre Mutter auch nicht. Wie viel Bargeld im Haus gewesen war, wusste natürlich niemand.
George parkte vor der Tür und begleitete Vicky ins Haus. Als sie die Haustür öffnete, schlug ihnen ein furchtbarer Geruch entgegen.
„Puh, das stinkt ja ekelig“, sagte George. Vicky ging in das rechts neben dem Eingang gelegene Wohnzimmer und stockte erneut angesichts der Kreidestriche auf dem Teppichboden. Neben dem Kaminsofa zeichnete sich ein großer, dunkler Fleck ab. George riss das Fenster zur Straße auf.
„Du wirst den Teppichboden ganz schnell rausreißen lassen müssen, Blut ist nun mal Blut.“
„Ich werde mich sofort darum kümmern. Honey, willst du noch einen Tee, bevor du aufbrichst?“, fragte Vicky und öffnete die Terrassentür, die vom Esszimmer aus in den Garten führte.
„Ich muss mich beeilen, du weißt doch, wie oft wir auf dieser blöden Strecke Stau haben.“ George trat hinter sie und schlang die Arme um sie. „Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei, dich hier allein zu lassen, in diesem Haus.“
„Das ist mein Elternhaus, George!“
„Es ist ein Haus, in dem vor kurzem ein Mord geschehen ist.“
„Du glaubst doch nicht etwa an Gespenster?“
„Darling, ich bin Banker, ich glaube an Habgier und an sonst gar nichts“, sagte George. „Tu mir einen Gefallen und schließe alle Türen, wenn du hier alleine bist, und lass um Gottes willen nicht die Terrassentür offen!“
„Das wird den Nachbarn aber nicht gefallen, wenn sie klingeln müssen.“
George zog sie an sich und drückte einen Kuss auf ihr Haar.
„Okay, versprochen, ich schließe zu. Aber nun mach, dass du wegkommst, sonst geht deine Niederlassung noch pleite.“
„Erst probieren wir aus, ob Fionas Karre auch fahrtüchtig ist, damit du von hier wegkommst“, sagte er. Vicky griff sich den Autoschlüssel vom Brett in der Küche und ging durch die Küchentür in die Garage. Während George das Tor öffnete, startete Vicky den Wagen. Der Ford sprang an und schnurrte wie eine Katze, die man hinter dem Ohr krault. Vicky fuhr das Auto aus der Garage, drehte eine Ehrenrunde um den kleinen Grünzug, der die Straße in der Mitte teilte, öffnete das Fenster und setzte den Ford rückwärts in die Garage. George schloss die Tür zur Garage sorgfältig zu.
„Das ist doch nicht nötig“, sagte sie.
„Doch.“
Vicky biss sich auf die Zunge. George wusste ganz genau, dass sie Probleme in einer geschlossenen Garage hatte. In geschlossenen Garagen und vor allem in geschlossenen Fahrstühlen. Natürlich hatte sie keine Klaustrophobie, nur einfach Probleme. Sie fühlte sich schlicht nicht wohl in kleinen, geschlossenen Räumen.
Victoria begleitete George zu seinem Auto und winkte ihm so lange hinterher, bis sein Mietwagen außer Sichtweite war. Sie sah, wie im schräg gegenüberliegenden Haus jemand ein paar Lamellen der Jalousie zusammenschob. Vicky winkte Sarah zu, die offensichtlich gerade das Mittagessen bereitete. Wie sollte sie sich hier gruseln, sie war wahrscheinlich die bestbewachte Frau von ganz England, außer der Queen natürlich. Mit gesenktem Kopf ging Vicky zurück ins Haus, bei jedem Schritt war sie sich der Blicke ihrer Nachbarn bewusst. Früher hätte sie die Teilhabe am Leben der anderen als unerträglich spießig empfunden. Seitdem sie in Deutschland war und erst recht in den letzten Tagen, seit dem Tod ihrer Mutter, war sie sich nicht mehr so sicher, ob nicht genau das einen Teil von Zuhause, von Heimat ausmachte. Das Interesse am Leben der anderen. Ein Teil zu sein vom Leben der anderen.
„Zu Hause ist da, wo niemand fragt, woher du kommst“, dachte Vicky und wischte sich mit ihrem langärmligen T-Shirt über die Augen. Nach all den
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