Das 5. Gebot (German Edition)
es roch nach Staub, Rheumasalbe und Vitamintabletten. Auf der Erde türmten sich Handtaschen, Schuhe und Unterwäsche, die Schubladen der Nachtische waren herausgezogen, Pillenschachteln, Salbentuben und Fieberthermometer lagen auf dem ebenfalls lindgrünen Teppichboden.
Was hatten die Einbrecher nur gesucht in diesem bescheidenen Reihenhäuschen? Geld wahrscheinlich, Schmuck. Beides hatte ihre Mutter nicht gerade üppig. Auf den Möbeln und allen anderen glatten Flächen lag eine zarte Staubschicht – vom Puder, den die Kriminaltechniker aufbrachten, um die Fingerabdrücke zu sichern, und vom Staub, der sich in der Zwischenzeit über die Einrichtung gelegt hatte.
Neben dem Schlafzimmer lag Vickys Zimmer, das Fiona ebenfalls nahezu unverändert gelassen hatte. Mit einer Ausnahme: Statt der Bettcouch gab es mittlerweile ein Queensize-Bett, das mit einem von Fionas wunderschönen Quilts abgedeckt war, damit Vicky, wenn sie mit ihrem Mann nach Branksome kam, hier übernachten konnte. In diesem Zimmer quartierte sich auch Onkel Willy mit Vorliebe ein, was dazu führte, dass in den rosenholzfarbenen Gardinen immer ein leicht muffiger Geruch von altem Zigarrenrauch hing. In dem Zimmer stand noch ihre alte Stereoanlage, der größte Schatz, den sie als Teenager ihr eigen genannt hatte. Das vierstöckige, anthrazitfarbene Monstrum mit Radio, Plattenspieler, CD-Player und Tapedeck war ein Weihnachtsgeschenk von Onkel Willy gewesen. Eine größere Freude hätte Onkel Willy seiner zwölfjährigen Nichte damals nicht machen können.
Vicky dachte an die vielen Nachmittage mit ihrer Freundin Celia, an denen sie auf der Bettcouch gehockt hatten, sich gegenseitig Fingernägel anklebten, über Jungs redeten und dabei wieder und wieder „I Just Died in Your Arms“ hörten. Da Fiona meist Nachtschichten machte, konnten sie in Vickys Zimmer auch rauchen, denn Victoria hatte hinterher genügend Zeit, so lange zu lüften, bis der ganze Zigarettenqualm sich verflüchtigt hatte.
An der Stirnseite des Hauses lag ein kleineres Zimmer, das Fiona zusammen mit ihrem todkranken Mann vor Vickys Geburt als Babyzimmer eingerichtet hatte. Vicky hatte hier ihre ersten Wochen verbracht, das Babybettchen stand noch immer in der Ecke und diente jetzt als Lagerstätte für Stoffe und Futtermaterial, die Fiona für die Herstellung ihrer farbenprächtigen Quilts benötigt hatte. Am Fenster, auf dem ehemaligen Wickeltisch, stand ihre Nähmaschine. In diesem Zimmer waren – wie im gesamten Obergeschoss – niemals die Tapeten gewechselt worden, so dass Winnie the Pooh in tausendfacher Ausfertigung auf das Chaos herablächelte. Was für ein anheimelndes Zimmer, dachte Victoria. Neben dem Babybettchen stand ein weißer, hoher Sekretär, in dem sich normalerweise Schachteln und Kisten türmten. Jetzt lag deren Inhalt verstreut auf dem Erdboden. Vicky ließ sich zwischen Garnrollen und Knöpfen, zwischen Papieren, Schnittmustern, Fotos und Zeitschriften auf der Erde nieder.
Sie griff nach einem Fotoalbum, das aufgeschlagen neben ihr lag. Vicky lächelte. Auf den Fotos war eine stolz lächelnde Frau zu sehen, die ein heulendes, dickliches Kind an der Hand hielt. Victoria konnte sich noch genau daran erinnern, wo diese Fotos gemacht worden waren. Es war an ihrem ersten Tag im Kindergarten gewesen, und sie wollte nicht weg von ihrer Mutter, sie wollte nicht in diesen Kindergarten, sie wollte wieder zurück nach Goa, wo es warm war und wo ihre Spielgefährten waren.
Was sie doch für eine hübsche Frau gewesen war, mit ihren schönen langen, dunkelblonden Haaren. Vicky nahm das Album hoch, um sich die anderen Seiten anzuschauen. Dabei fielen ein paar Fotos und ein alter Pass heraus. Sie lächelte, als sie das obere Foto sah. Es war schon sehr verblichen, es zeigte Fiona mit Vicky auf dem Schoß.
Vicky legte den Pass auf ihre Beine und blätterte weiter in dem Fotoalbum. Sie fand einige Bilder von der Siamkatze Miss Jekyll, die so alt geworden war wie Methusalem und so geschwätzig wie ein Waschweib. Sie fand ausgeblichene Bilder von einem Kindergeburtstag, für den Fiona den Garten mit bunten Lampions und Luftballons geschmückt hatte. Vicky dachte an die üppigen Kinderbüfetts, für die Fiona tagelang in der Küche gestanden hatte. In einem Jahr hatte sie einen ganzen Zoo aus Zuckerguss hergestellt, es gab Wackelpudding in Neonfarben und Schokolade, bis allen Kindern schlecht war.
Vicky fand Bilder, auf denen sie bei Onkel Willy auf dem Schoß saß, der
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