Das 5. Gebot (German Edition)
wenn ich Vicky anschaue, dann sehe ich John. Sie hat seine Augen und seinen starken Willen und sein Gerechtigkeitsgefühl. Sie kommt ganz nach ihm. So ist er immer noch bei mir, hat sie gesagt. Neun Wochen vor Vickys Geburt ist John gestorben, ist das nicht furchtbar traurig? Er hat sein Kind nie gesehen!“
George nickte und nippte an einer Tasse Tee. „Ja, sehr traurig“, sagte er und warf seiner Frau einen sorgenvollen Blick zu. Victoria sah fast durchsichtig aus, sie hatte die ganze Nacht geweint, und auch am Grab ihrer Mutter hatte sie erbärmlich geschluchzt. Ob er um seine Mutter auch so weinen würde, hatte George sich gefragt. Er konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellten.
„Sie ist damals, als John starb, völlig zusammengebrochen, die Arme. Dabei hat sie gewusst, dass er todkrank war“, sagte Sarah.
„Völlig ausgeflippt ist sie“, sagte Vickys Nachbarin zur Rechten, eine Frau, die George noch nie gesehen hatte. „Fing plötzlich an, Hippiekleider zu tragen, und das ganze Haus stank nach Räucherstäbchen. Ich glaube, sie hat gehascht.“
George lächelte in sich hinein, er konnte sich seine Schwiegermutter beim besten Willen nicht als kiffenden Hippie vorstellen.
„Klar hat sie gehascht“, sagte Sarah, „sie hat doch ihrem John immer das Marihuana besorgt, gegen die Schmerzen, das hat sie dann nach der Geburt unserer kleinen Vicky selbst dagegen verwendet. Waren andere Zeiten damals.“
George mochte sich nicht vorstellen, was Sarah darunter noch alles verstand.
„Nix Rauschgift, mein Lass hat nie Rauschgift genommen!“ Onkel Willy wurde fast böse. „Nicht mal getrunken hat sie, nicht mal ein einziges kleines Schlückchen hat sie sich gegönnt.“
Sarah kicherte, und Vicky warf George einen bedeutungsvollen Blick zu. Also doch, dachte er, seine Schwiegermutter hatte wohl das eine oder andere Geheimnis vor Onkel Willy gehabt.
„Weggelaufen ist das arme Kind, hat ihr Baby genommen und hat sich auf die Reise gemacht. Erst nach Übersee. Weil ihr John da herkam. Aus San Francisco. Wollte sehen, wo er aufgewachsen war. Seine Familie in Amerika kennenlernen. Von da aus ist sie dann nach Indien.“
„Goa“, sagte Sarah.
„Sag ich doch, Indien.“
„Sie hat ein Hospital mit aufgebaut in Goa“, sagte Sarah und sah Vicky fragend an: „Erinnerst du dich eigentlich noch an Goa?“
Vicky schüttelte den Kopf. „Nein. Es sind nur Erinnerungsfetzen, die ich kaum greifen kann. Ich erinnere mich an das Häuschen, ein winziges helles Steinhäuschen, das Mum gemietet hatte. Es muss wohl einen Garten gegeben haben. Ich habe darin oft gespielt. Es gab eine Dusche draußen vor dem Haus, da tröpfelte das Wasser nur in Rinnsalen raus. Und ich erinnere mich an riesige Pflanzen. Exotische Pflanzen, exotische Blüten, riesige Früchte, Mangos, Bananen und so was. Es war heiß, daran entsinne ich mich. Heiß und staubig. Was eigentlich komisch ist, denn es war immer irgendwie auch feucht. Trotzdem sehe ich staubende Straßen vor mir, vielleicht von den Bauarbeiten, sie haben ja ein Krankenhaus gebaut. Und an den Hund der Nachbarn, an den kann ich mich noch ganz genau erinnern. Eine hässliche Promenadenmischung. Aber ich war viel zu klein, vielleicht sind das auch keine wirklichen Erinnerungen, vielleicht erinnere ich mich einfach an alte Fotos, die meine Mutter mir gezeigt hat.“
„Ach, du warst so niedlich“, sagte Sarah und strich Vicky über ihre in der feuchten Seeluft gekräuselten Haare. George wusste, dass Vicky nichts mehr hasste, als wenn ihre sorgfältig gestylten Haare bei Feuchtigkeit in tausend kleine Löckchen zersprangen, was er ganz und gar entzückend fand.
„Du sahst aus wie eine von diesen Negerpuppen, mit denen wir als Kinder gespielt haben“, sagte Sarah. George fing Vickys gequälten Blick auf. „Dunkelbraun gebrannt und dazu deine wilden, dunklen Locken und diese riesigen, braunen Knopfaugen, dabei hattest du als Baby die blausten Augen, die man sich vorstellen kann.“
„Das ist ganz normal“, sagte die Frau, die rechts neben Vicky saß. „Ich habe noch nie ein Baby geholt, das keine blauen Augen hatte“, fügte sie hinzu. Jetzt wusste George auch wieder ihren Namen: Elsie, die Hebamme, neben Sarah Fionas beste Freundin. „Die Pigmentierung entwickelt sich erst im Laufe der ersten Monate, so nach circa einem Jahr kann man dann mit Sicherheit sagen, welche Farbe die Augen eines Kindes haben.“
„Auf jeden Fall war unsere Vicky hier ein ganz
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