Das 5. Gebot (German Edition)
Kamin weihnachtlich geschmückt mit roten Filzsocken und einer Girlande mit Weihnachtskarten. Vicky schloss die Augen und dachte an die Weihnachtsfeste, an denen sie morgens die Treppe hinunterschlich, um zu schauen, was Santa Claus ihr gebracht hatte, während ihre Mutter und Onkel Willy noch taten, als ob sie schliefen. Fiona hatte zwar nie viel Geld verdient, aber sie hatte versucht, Vicky jeden erdenklichen Wunsch zu erfüllen.
Vicky wischte sich die Tränen aus den Augen. Endlich konnte sie in Ruhe heulen. Um Mami, um ihre kleine Familie. Um all die Geborgenheit und Liebe, die ihre Mutter ihr gegeben hatte. Jede Sekunde ihres Lebens hatte sie in der absoluten Gewissheit verbracht, unendlich und bedingungslos geliebt zu werden. Und jetzt? Jetzt würde sie selbst einen Plumpudding backen müssen und ihre Liebe weitergeben an ein Kind, von dem sie noch nicht einmal genau wusste, ob sie es auch wirklich wollte. Und ob sie es überhaupt je bekommen würde.
Sie schaute sich um, ob sie irgendwo einen Fetzen Stoff finden konnte, um zu schnauben, als sie ein Geräusch hörte. Schlich da etwa jemand durch das Haus?
Ihr wurde heiß, als ihr einfiel, dass sie entgegen ihrem Versprechen an George die Terrassentür weit offen gelassen hatte. Die Macht der Gewohnheit. Wie gelähmt lauschte Vicky auf Geräusche aus dem Haus. Da war doch was. Sie griff die Fotos und den Pass, die in ihrem Schoß lagen, steckte alles in ihre Jackentasche und versuchte, sich lautlos aufzurichten. Sie hörte ein Geräusch von der Treppe.
„Ist da jemand?“, rief sie in die dröhnende Stille. Auf Zehenspitzen schlich Vicky hinter die Zimmertür, ihr Herz klopfte so laut, dass sie Angst hatte, man könne es bis unten hören. Die oberste Stufe der Treppe knarrte, sie hörte jemanden schnaufen. Vicky hielt den Atem an und kniff unwillkürlich beide Augen zu. Das Geräusch kam näher. Bitte, lieber Gott ..., betete sie, da stupste sie etwas am Bein. Vicky öffnete die Augen und sackte vor Erleichterung in die Knie. Neben ihr stand ein begeistert mit dem Schwanz wedelnder Balou, der völlig verfettete Beagle von Mrs. Dzembritzki.
Vicky vergrub den Kopf in den Halsfalten des Beagles, während sie sich daran erinnerte, wie die Küche ihrer Mutter früher stets einem Tierasyl geglichen hatte. Die Hunde und Katzen aus der Nachbarschaft fühlten sich bei Fiona zu Hause und fanden – trotz lautstarker Proteste von Miss Jekyll – immer Schälchen mit Wasser und Futter vor, aus denen sie sich reichlich bedienten. Wie oft hatten die Nachbarinnen den Kopf durch die Küchentür gesteckt, auf der Suche nach ihrem Hund, ihrer Katze, ihrem Kind, einem heißen Tee, ein bisschen Tratsch oder ein wenig Trost. Genauso wie sie selbst mit einer Horde Nachbarskinder in fremden Küchen mit Pfefferminztee, Süßigkeiten, Pflaster und Trost versorgt worden war. Wie konnte es passieren, dass das Leben ihrer Mutter in dieser Umgebung ein so furchtbares Ende gefunden hatte? Wann war diese heile Welt zerbrochen? Wo waren sie gewesen, die Beagles, Bassetts und Retriever, als ihre Mutter starb?
„Vicky, Vicky, wo bist du? Balou, komm her!“, schallte es aus dem Wohnzimmer.
„Wir sind hier oben, Mrs. Dee“, rief Vicky und stieg zusammen mit dem verfetteten Beagle die Treppe hinunter. Die Treppe war so schmal, dass sie hinter dem Hund herlaufen musste.
„Hallo, mein Kind, ich dachte, ich schau mal nach dir, ich habe Hähnchen-Pie gemacht, du bist doch sicher hungrig. Und ein Tässchen Tee könnte dir bestimmt nicht schaden“, sagte Mrs. Dee.
„Das ist aber lieb“, antwortete Vicky und meinte es genau so.
16. Poole
Vicky sah auf die Uhr. Es war bereits kurz nach vier, sie musste sich sputen. Nach dem Mittagessen bei Mrs. Dee hatte sie ihre alte Freundin Celia angerufen. Celia, die nach dem Abitur bei der Stadtverwaltung eine Ausbildung gemacht hatte, war inzwischen Mutter von drei temperamentvollen Mädchen. Sie hatte sie auf einen Cappuccino in ihr Haus in Poole eingeladen. Vicky hoffte inständig, dass die Mädels mit Freunden verabredet waren, Schularbeiten machen mussten oder beim Sport waren. Ein vernünftiges Gespräch war sonst einfach nicht möglich.
Sorgfältig verschloss Vicky alle Türen und Fenster bis auf die Klappfenster im Wohnzimmer. Morgen Abend würde es hier schon anders aussehen. Nachdem sie den alten Ford auf die Auffahrt gefahren hatte, verschloss sie ebenso sorgfältig die Garagentür, winkte Sarah zu, die sie durch das Küchenfenster
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