Das 5. Gebot (German Edition)
wir vor unseren Häusern gebaut hatten. Doch diese Probleme waren zu meistern.
Wahrscheinlich war ich noch zu naiv oder zu weltfremd, um zu begreifen, was damals passierte. Ich war fest davon überzeugt, dass wir die Lebensform der Zukunft gefunden hatten, eine Zukunft, in der alle Menschen glücklich werden konnten.
Die einzigen Informationen, die wir über den Rest der Welt hatten, stammten von Dad. Er sagte uns, dass man uns nicht so leben lassen wollte, wie wir wollten. Dass die Anfeindungen gegen unsere Gemeinde immer heftiger wurden. Dad berichtete darüber in unseren nächtlichen Sitzungen. Was uns alle am tiefsten verletzte, waren die Lügen, die ehemalige Mitglieder über uns und unser Camp angeblich verbreiteten. Dad sagte, wir wären von Feinden umzingelt: Da war auf der einen Seite die CIA, die uns misstrauisch beäugte, da waren hysterische Angehörige, die den Rest der Welt glauben machen wollten, dass wir entführt und gegen unseren Willen im Camp festgehalten wurden, und da waren Medien, die Dad verteufelten und uns für Spinner erklärten. Hinzu kamen Übergriffe auf das Camp, Eingeborene, die das Lager in der Nacht überfielen und uns bestahlen.
Immer häufiger wurden wir abends in den Gemeinschaftsraum gerufen, in dem Dad zu uns sprach. Er hatte erkannt, dass wir fest zusammenhalten mussten, um diese Anfeindungen zu meistern. Das Schlimmste war das Misstrauen, das sich dadurch zwischen uns einschlich. Am Anfang waren wir frei und glücklich gewesen, aber jetzt fühlten wir uns plötzlich von den „Neuen“ bespitzelt.
Dad forderte absolute Loyalität. Wir mussten ihm Treue bis in den Tod schwören. „Seid ihr bereit, für unsere Sache zu sterben?“, fragte er. Er begnügte sich nicht mit Lippenbekenntnissen, er stellte uns auf die Probe. „Weiße Nacht“ nannte er das. Es war ein Ritual. Er schrie unseren Feinden, die unsere Gemeinschaft zerstören wollten, zu, dass wir uns nie, nie ergeben würden, was wir wiederholten, wieder und wieder. Er sagte uns, dass sie kommen würden, um uns zu holen, und dann würden wir gefoltert werden und ermordet.
„Oh Gott, jetzt weiß ich auch, wovon sie schreibt!“, rief Vicky, der ein Schauer über den Rücken gelaufen war.
Draußen vor dem Camp waren immer öfter Schüsse zu hören. Wer unsere Feinde waren? Die CIA natürlich, die Kapitalisten, sagte Dad bei unseren nächtlichen Versammlungen. Es wäre eine Verschwörung gegen uns im Gange, sagte er, und es sei besser, wenn wir das Gift, das er uns verabreichen würde, trinken würden. Und wir tranken gehorsam, wohl wissend, dass wir rot gefärbtes Zuckerwasser tranken. Er wollte wissen, wer sich weigerte, um herauszufinden, wer loyal zu ihm stand.
Im Lauf der Zeit wurden diese nächtlichen Sitzungen immer häufiger und die meisten von uns immer müder. Ich war so müde, dass ich krank wurde. Ich bekam hohes Fieber, Erbrechen, Durchfall und fühlte mich von Tag zu Tag schlechter. Heute würde ich das psychosomatische Störungen nennen. Man brachte mich in unser Krankenhaus, das ich mit meinen eigenen Händen mit aufgebaut hatte.
Krankenhäuser scheinen mein Schicksal zu sein. So wie ich einst meine Prophetin Jean in Cayenne im Krankenhaus getroffen habe, so lernte ich diesmal Fiona näher kennen. Jean gehörte inzwischen zu denen, die in Amerika Lügen über uns verbreiteten. Dafür hatten Fiona und ich etwas gemeinsam: Wir waren die Einzigen im Camp, die keine Amerikaner waren. Fiona war Engländerin, sie war zu uns in San Francisco gestoßen, über die Verwandten ihres verstorbenen Mannes. Fiona arbeitete als Krankenschwester in unserer Klinik, allerdings war sie jetzt wegen einer Nierenkolik im Krankenhaus meine Bettnachbarin.
„Halt“, rief Vicky aufgeregt, „das ist doch meine Mum, Fiona ist meine Mutter!“ Leo blickte nur kurz auf und las weiter.
Natürlich bekamen wir dennoch mit, dass wir alle zusammengerufen wurden. Die Wachen waren wohl auch in unserem Zimmer gewesen, aber wir waren mit anderem beschäftigt: Ich umarmte die Toilettenschüssel, während Fiona durch die Gegend hopste in der Hoffnung, dass ihre Nierensteine sich lösen würden. Mit einem Mal hörten wir Schüsse. Das war zunächst nichts Ungewöhnliches, wie gesagt, es gab öfter Schüsse, wenn wir uns im Gemeinschaftsraum trafen. Doch dann hörten wir Schreie, unglaubliche Schreie. Es sind diese Schreie, die mich ein Leben lang begleitet haben.
Wir liefen zum Fenster. Aber es war nichts zu sehen, man hörte nur
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