DAS 5. OPFER
bin froh, dass du hier bist. Ich könnte das alles nicht alleine machen. George hilft, so gut er kann, aber er hat so viel bei der Arbeit zu tun. Dass du hier bist, macht einen großen Unterschied. George, George ist meine Familie, aber du und deine Mutter, ihr seid mehr als das. Ihr seid Blutsverwandte.« Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf Reggies Hand, drückte sie vorsichtig.
Reggie nickte und drückte zurück. »Danke.« Diese Worte fühlten sich wie die ersten freundlichen Worte an, die sie von Lorraine seit sehr langer Zeit gehört hatte. Doch das war Reggies Schuld, oder nicht? Sie hatte Lorraine ausgeschlossen, war unnötig grausam gewesen, in einer Art, wie es nur Mädchen im Teenageralter sein können.
Reggie fühlte sich plötzlich schuldig wegen ihrer flüchtigen Gedanken von vor nur ein paar Tagen, dass Lorraine etwas mit Neptun zu tun haben könnte, dass sie diejenige gewesen sein könnte, die Vera den Zeitungsartikel gegeben hatte.
»Es tut mir leid, dass ich letzte Woche auf diese Art weggerannt bin, nachdem Mom nach Hause gekommen war.«
Lorraine nickte. »Ich kann mir vorstellen, es war eine Menge, was du da auf einmal verarbeiten musstest.«
»Und es tut mir leid, dass ich dir die Schuld gegeben habe, als Mom verschwand. Es war nicht dein Fehler. Ich war einfach nur so am Boden zerstört, so wütend, ich schätze, ich brauchte jemanden, gegen den ich das alles richten konnte. Es war nicht richtig, von zu Hause wegzugehen und nie zurückzukommen. Ich konnte mich den Dingen einfach nicht stellen. Ich wusste nicht, wie. Es war feige, und es tut mir leid.«
Lorraine beugte ihren Kopf, als würde sie ihre Schuhe betrachten. »Ich verstehe es«, sagte sie.
Sie schwiegen eine Moment. Draußen, in der Ferne, heulte eine Sirene.
»Ich bin heute Bo Berr besuchen gegangen«, gestand Reggie, dankbar, das Thema wechseln zu können. »Ich dachte, dass er vielleicht Neptun wäre.«
»Warum in aller Welt solltest du das denken?«
»Wegen etwas, was George mir mal erzählt hatte. Darüber, dass Mom zurückkam und mit Bo lebte, nachdem sie in New York gewesen war. Dann habe ich ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass Bo derjenige war, der sie an diesem Abend von der Bowlingbahn abholte. Er kam und nahm sie in einem geborgten Auto mit.«
Lorraine schürzte ihre Lippen. »Deine Mutter und Bo, das ist eine uralte Geschichte. Himmel, er hat mir so leidgetan damals, als sie noch in der Highschool waren. Sie hat ihn furchtbar behandelt. Beide. Sie hingehalten, sie gegeneinander ausgespielt, wie Marionetten.«
»Wen?«
»Bo und seinen jüngeren Bruder Stuart.«
»Warte mal … Mom ist mit Stu ausgegangen? Charlies Dad?«
Lorraine zuckte die Achseln. »Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was wann passierte. Doch am Ende, denke ich, brach sie beiden das Herz, als sie nach New York wegrannte.«
REGGIE FAND DAS Abschlussklassenjahrbuch ihrer Mutter genau dort, wo Tara es vor Jahren hingelegt hatte, oben auf dem Schrankkoffer auf dem Dachboden.
Reggie konnte Taras Stimme hören: Gott, war sie schön. Du siehst aus wie sie.
Reggie hielt das Jahrbuch in der Hand und blickte in die drei Spiegel, während Veras Schneiderpuppen hinter ihr standen wie alte, vertraute Geister. Sie sah tatsächlich wie ihre Mutter aus. Jetzt sah sie es. Um die Augen, die Wangenknochen. Sie war eine dunklere Version von Vera – das sprichwörtliche schwarze Schaf.
Reggie öffnete das Jahrbuch und ging es Seite für Seite durch, las die Notizen und Unterschriften. Und dort, beinahe am Ende, war ein Foto, das ihr vorher entgangen war. Vera und ein dunkelhaariger Junge mit ernstem Gesicht, die die Arme umeinander gelegt hatten. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, und sie sah friedlich aus, zufrieden. Daneben hatte er in ordentlicher Schreibschrift geschrieben:
Nicht liebt, wer nimmer offenbart die Liebe.
Rann nie der Strom der treuen Liebe sanft.
Liebe ist ein Kobold. Liebe ist ein Teufel.
Es gibt keinen bösen Engel, als die Liebe.
SHAKESPEARE
Für immer und ewig,
Stu
Plötzlich machte es Klick, wie bei einem Schlüssel, der sich im Schloss dreht, und alles ergab einen Sinn.
Stu Berr.
Stu Berr, der die Untersuchungen geleitet hatte. Der seinen Bruder vom Haken gelassen hatte. Stu, ein Mann in einer Machtposition.
Reggie erinnerte sich an die entsetzte Reaktion ihrer Mutter, als sie Charlies Gesicht sah. Und sah Charlie nicht genauso aus wie sein Vater?
O Gott, es ergab alles einen Sinn.
Reggie zog ihr
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