DAS 5. OPFER
Schlafzimmer lag gegenüber von dem seines Vaters, auf der anderen Seite des Flurs. Es war jetzt leer, bis auf ein großes Bett, das ordentlich gemacht war, und eine leere Kommode. Es war nichts im Schrank, keine heimelige Kunst an den Wänden. Es fühlte sich verlassen an.
Sie ging durch den Flur zu Stus Büro, die Absätze ihrer Stiefel klickten auf dem Hartholzboden. Damals, als Charlie noch zu Hause lebte, hatte Stu sein Büro immer abgeschlossen. Jetzt, stellte Reggie glücklich fest, machte er sich die Mühe nicht mehr. Das alte Schließband war noch an der Außenseite der Tür festgeschraubt, aber es hing kein schweres Vorhängeschloss mehr dort.
Was sie sah, als sie den Raum betrat, saugte ihr die Luft aus den Lungen, als wäre sie in eine Art Unterdruckkammer geraten.
Das Zimmer war unordentlich und chaotisch, die Wände, der Schreibtisch und der Boden bedeckt mit Notizen, Fotos, Polizeiberichten und Zeitungsausschnitten über den Neptunfall.
»Du kriegst die Tür nicht zu«, murmelte sie.
Es war, als wäre sie in der Zeit zurückgereist.
An die Wand gepinnt waren Polizeifotos von jeder Hand in jedem Milchkarton und von den drei Opfern, so wie sie gefunden worden waren: Ann Stickney im Stadtpark, Candace Jacques am Sockel der Statue des Wissens vor der Bibliothek, Andrea McFerlin ausgestreckt im Springbrunnen des King Philip Parks. Jede Frau war nackt, in einer merkwürdigen, verzerrt aussehenden Pose zurückgelassen worden, und eine große Pranke aus Verbänden überdeckte die Stelle, wo ihre rechte Hand gewesen war.
Reggie fühlte, wie Magensäure in ihrem Rachen brannte. Sie schluckte heftig, versuchte, sie unten zu halten. Es war eine Sache, von den Leichen zu lesen, zu hören, wie in den Nachrichten davon geredet wurde, und sich vorzustellen, wie sie ausgesehen haben könnten. Doch sie tatsächlich zu sehen –die kleinen Details zu bemerken, wie die Kaiserschnittnarbe auf Andrea McFerlins mit Schwangerschaftsstreifen bedecktem Bauch; Candace Jacques eingerissenes Ohrläppchen, weil Neptun während ihres Kampfes an ihrem Ohrring gezerrt hatte, das wächserne, gesprenkelte Licht, das Ann Stickneys Leiche beinahe bläulich aussehen ließ – erweckte die Morde auf eine ganz neue, Übelkeit erregende Weise zum Leben. Dies waren echte Frauen, nicht nur Namen in den Nachrichten. Sie hatte das vorher gewusst, sicher, es aber bis jetzt niemals wirklich verstanden.
Und dort, auf dem letzten Foto auf der rechten Seite, war die Hand ihrer Mutter in dem Milchkarton, das Narbengewebe sah wie Plastik aus, als wäre die Hand vielleicht aus Knetmasse gemacht worden – wie etwas aus einer Spezialeffekte-Abteilung in Hollywood. Doch es war zweifellos Veras Hand. Und selbst jetzt noch zeigte der Finger weiter starr in Reggies Richtung.
Reggies Beine wurden weich wie Götterspeise, und sie hielt sich an der Kante von Stus Schreibtisch fest, ließ sich auf seinen gepolsterten Schreibtischstuhl sinken. Sie atmete ein paarmal durch, um sich zu beruhigen, knipste dann Stus Computer an, aber er war mit einem Passwort geschützt. Sie versuchte NEPTUN, DUKE, YOGI und CHARLIE , und dann fiel ihr offiziell nichts mehr ein, also stellte sie ihn wieder aus. Eine Lawine aus Papieren und Aktenmappen bedeckte den Schreibtisch und war bis auf den Boden gerutscht. Bei vielen von ihnen waren die Namen der Opfer und der Verdächtigen auf das Etikett geschrieben: ANN STICKNEY, ANDREA MCFERLIN, CANDACE JACQUES, JAMES JACOVIC, SAL ROSSI, WAYNE ABBOTT . Und dort, oben auf dem Stapel, lag eine Akte, die mit VERA DUFRANE beschriftet war. Ein Notizblatt war daran geheftet. Reggie nahm die Akte und las die Notiz:
18.10.2010
Detective Berr,
ich bezweifle, dass Sie sich an mich erinnern – mein Name ist Tara Dickenson, es ist Jahre her, dass wir uns begegnet sind. Ich bin eine alte Freundin von Charlie. Ich arbeite als Krankenschwester und wurde vor Kurzem eingestellt, um mich um Vera Dufrane zu kümmern.
Vera sagte gestern Abend etwas, von dem ich hoffe, dass sie mir helfen können, es zu verstehen.
Meine Mobiltelefonnummer ist 860-318-1522. Bitte rufen Sie an, sobald Sie dies bekommen. Wenn möglich, würde Sie gerne heute noch treffen.
Tara
»So hast du sie also erwischt«, sagte Reggie. Er hatte einfach die Nummer angerufen, ein Treffen vereinbart und sie sich geschnappt. Dies war der Beweis, nach dem Reggie gesucht hatte. Sie würde direkt zur Polizei gehen. Aber sie musste vorsichtig sein, oder nicht? Das waren alles Freunde
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