DAS 5. OPFER
Reggie für nicht vertrauenswürdig? Gar für gefährlich? Vielleicht steckte sie mit Neptun unter einer Decke?
»Natürlich«, sagte die Sozialarbeiterin schließlich. »Ich bin gleich drüben am Stationstresen, falls Sie mich brauchen.«
Reggie lächelte freundlich, konnte sich aber keine Situation vorstellen, in der sie Carolyn Wheeler brauchen würde. Reggie machte die Tür zu. Sie hätte sie abgeschlossen, wenn das möglich gewesen wäre.
»Besser?«, fragte sie und kehrte an die Seite ihrer Mutter zurück.
Ihre Mutter. Gott, obwohl sie da war, sie berührte, sie einatmete, konnte sie es nicht glauben. Vera, am Leben. Reggie rechnete kurz nach und ihr wurde klar, dass ihre Mutter neunundfünfzig Jahre alt war. Mit ihren hageren Gesichtszügen und der schlaffen Haut sah sie eher wie achtzig aus. War das das Ergebnis des Krebses oder eines jahrelangen ausschweifenden Lebens? Was brauchte es, um einen Menschen derart zu brechen? Sie in eine geschrumpfte Puppe zu verwandeln, die nur schwache Ähnlichkeit mit der Person aufwies, die sie einst gewesen war?
Carolyn Wheeler schien zu denken, dass der Verstand ihrer Mutter schon zu sehr beeinträchtig war, um irgendetwas Hilfreiches über den Mörder zu offenbaren. Aber sie musste sich an etwas erinnern, oder? Und an welche Einzelheiten auch immer sie sich erinnerte, es war unwahrscheinlich, dass sie die gegenüber fremden Detectives oder einer Sozialarbeiterin mit Brokkoli zwischen den Zähnen ausplaudern würde.
»Ich werde dich nach Hause bringen, Mom.«
»Nach Hause?«
»Nach Moniques Wunsch. Würde dir das gefallen?«
Ihre Mutter blickte mit wässerigen, grauen Augen zu ihr hoch. »Wohnst du dort?«
Reggie versteifte sich. Verflucht, nein. Nicht mehr seit über zwanzig Jahren.
»Nein«, sagte sie. »Aber ich werde dort bei dir bleiben, so lange, wie du willst.« Reggie konnte es so deutlich sehen: wie sie ihrer Mutter Tassen mit Tee und Vanillepudding bringen würde und Vera ihr alles darüber erzählen würde, was wirklich mit ihr passiert war, nachdem sie entführt worden war. Reggie würde die Antworten bekommen, die die Polizei nicht in der Lage gewesen war zu bekommen. Sie würde den Fall wieder öffnen, wie ein normaler Privatdetektiv, sicherstellen, dass der Bastard das bekam, was ihm zustand. Wenn Reggie im Justizsystem das Sagen hätte, würde sie Neptun auf einen Tisch schnallen und den Verwandten der Frauen, die er getötet hatte, ein großes, altes Tranchiermesser geben lassen. Auge um Auge, Hand um Hand.
»Mm«, sagte Vera und schloss ihre Augen. Dann riss sie sie weit auf. »Sie tun hier Dinge mit den Leuten«, sagte Vera, senkte dabei ihre Stimme und sah besorgt zur Tür. »Sie bringen sie in den Keller und schneiden sie auf. Dann stopfen sie sie aus.«
Reggie starrte auf ihre Mutter hinab, unsicher, was sie sagen sollte. Sie beschloss, dass ein verständnisvolles Nicken am besten war. Ja, Mom, ich bin sicher, dass sie das tun.
Vera fing an zu husten. Es war ein nasser, quälender Husten. Ihre Augen tränten und ihre Zunge kam heraus. Ihr ganzer Körper zuckte. Sie nahm ihre Arme unter der Decke hervor und Reggie sah den Stumpf: Der Schnitt war direkt unter dem Knubbel ihres Handgelenks gemacht worden. Die Haut dort war glänzend und blass – Geisterfleisch. Wenn Reggie blinzelte, konnte sie beinahe die Form der fehlenden Hand sehen, die noch daran saß und auf sie zeigte. Ihre Mutter hievte sich nach vorne, hustete und würgte mit solcher Heftigkeit, dass es schien, als könnte sie sich eine Rippe brechen. Reggies Hand schwebte über dem roten Knopf am Seitenteil des Bettes – sollte sie eine Schwester rufen? Und dann war es vorbei. Vera legte sich wieder im Bett zurecht, griff mit ihrer linken Hand in ihren Mund, so weit hinein, dass sie würgen musste. Dann zog sie ihre Hand heraus und hielt sie auf.
»Siehst du?«, fragte sie.
Reggie sah nach unten. Die Fingerknöchel ihrer Mutter waren geschwollen und Zeige- und Mittelfinger waren vom Nikotin gelb verfärbt. Und dort, in ihrer sehr faltigen Handfläche, lag etwas, das aussah wie ein winziges Stück mit Schleim bedeckter weißer Faden.
Reggie fröstelte und spürte, wie ihr die Galle in den Hals stieg. »Lass uns dich hier rausbringen«, sagte sie.
Sie fand ein Plastiktasche für die persönlichen Sachen der Patientin und füllte sie eilig mit dem Wenigen, was sie finden konnte: Krankenhaus-Zahnbürste und -Zahnpasta, Shampoo und Deodorant, einem gelben Plastikkamm und
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