DAS 5. OPFER
Päckchen.
Officer Sparrow, das neueste Mitglied der Truppe, löste den Faden, ohne seine Vorgesetzten zu informieren oder es als möglichen Sprengsatz zu überprüfen.
»Ich weiß nicht, was ich dachte«, erzählte er mir später in einem Interview. Er war ein Einundzwanzigjähriger mit einem frischen Gesicht, der am örtlichen Community College einen Abschluss in Strafrechtspflege gemacht hatte und sofort in den Polizeidienst eingetreten war. Er war in Brighton Falls aufgewachsen und hatte immer Polizist werden wollen. »Ich schätze, ich dachte, es wäre ein Fehler, wissen Sie? Jemand hatte es dort hingestellt und aus Versehen stehen gelassen. Es sah aus wie etwas aus einer Bäckerei, so wie es eingepackt war.«
Unter dem braunen Papier fand Sparrow einen rot-weißen Milchkarton, der mit Heftklammern geschlossen worden war. Da seine Neugier geweckt war, zog er ihn oben auseinander und entdeckte die rechte Hand einer Frau mit gut manikürten Nägeln, die mit einer frischen Schicht korallenfarbenen Nagellacks lackiert waren. Officer Sparrow setzte den Karton wieder ab, eilte nach drinnen, um den diensthabenden Unteroffizier über seine Entdeckung in Kenntnis zu setzen, rannte dann den Flur entlang zur Herrentoilette und übergab sich.
7 16. Oktober 2010 – Worcester, Massachusetts
REGINA?«, GURRTE DIE FRAU unter der Bettdecke. »Bist du das?«
Ihr Gesicht war skelettartig, ihre Haut so dünn und weiß, dass man darunter die blauen Venen pulsieren sehen konnte. Ihre Haare, einst von einem strahlenden Platinblond, waren nun schlaff und farblos wie Reisnudeln. Doch es war Vera, ohne Zweifel.
Reggie blieb wie erstarrt im Türrahmen stehen, mit einem engen, einschnürenden Gefühl in der Brust, das ihr ihren ganzen Atem nahm, ihr Herz fast zum Stillstand brachte.
Geh da rein, du verfluchter Feigling, sagte sie zu sich selbst.
»Ich bin es, Mom«, sagte Reggie. Wie seltsam, dass sie sich nun fragen musste, wer es war, den ihre Mutter sah. War da noch ein Teil des Mädchens, das sie einmal gewesen war, das unter einem Pony aus dunklem, lockigen Haaren hervorspähte, eins dreiundsiebzig groß war und nur aus Ellbogen und Knien bestand, wie eine absurde Marionette? Vielleicht hatte sich letzten Endes nicht viel verändert. Mit ihrer Lederjacke, den Jeans und Stiefeln war sie immer noch wie das burschikose Mädchen gekleidet, das sie immer gewesen war.
Der Weg vom Türeingang zum Bett schien ewig zu dauern. Reggies Stiefel rutschten über den frisch gewachsten Boden, als wäre es Eis. Als wäre sie wieder zehn und würde auf dem Ricker’s Pond in Schlittschuhen auf ihre Mutter zugleiten.
Sie erreichte den Rand des Bettes und legte eine zitternde Hand auf Veras Schulter. Da war sehr wenig Fleisch – Reggie konnte die knotigen Knochen fühlen, die das lose Gerüst bildeten, welches ihre Mutter zusammenhielt. Das erinnerte sie an die Holzspielzeugsteine, mit denen sie als Kind gespielt hatte, als sie mehrere Sätze zusammengesetzt hatte, um einen Turm zu bauen, der bis unter die Decke reichte; einen Turm, der sich bog und schwankte und schließlich auf den Boden fiel. Veras Arme waren unter die Decke gesteckt, und Reggie erwischte sich dabei, wie sie auf die Konturen starrte, die sie bildeten, versuchte sich vorzustellen, dass der rechte Arm am Handgelenk endete. Die Decke, die sie bedeckte, war dünn und weiß, die Worte EIGENTUM DES UMASS KRANKENHAUSES waren in blauen Buchstaben mit Schablone geschrieben. Veras Knie waren gebeugt und machten ein Zelt aus der Decke. Das Kissen unter ihrem Kopf war feucht und fleckig.
Ihre Blicke trafen sich. Reggie drehte leicht den Kopf, schob das Haar zur Seite, um die Narben um die Ohrprothese zu enthüllen. Der Beweis. Vera lächelte, flüsterte dann etwas, das Reggie nicht verstand.
Sie beugte sich hinab. »Was war das?«
»Man muss hier vorsichtig sein. Die Leute sind nicht das, was sie vorgeben zu ein. Wie sie.« Sie starrte an Reggie vorbei auf Carolyn Wheeler, die sich im Türeingang herumdrückte. »Sie kennt den alten Beelzebub.« Veras Atem war warm und roch nach Hefe. Ihr fehlten mehrere Zähne.
»Möchtest du, dass ich sie wegschicke?«
Veras Augen wurden groß. »Das kannst du tun?«
Reggie lächelte. »Du wirst schon sehen.« Sie stand auf, ging hinüber zu der Sozialarbeiterin und fragte sie, ob sie und ihre Mutter ein wenig Privatsphäre haben könnten. Carolyn sah verwirrt aus. Ihre Augen wanderten von Vera zu Reggie, dann zurück zu Vera. Hielt sie
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