DAS 5. OPFER
als sicher, dass sie freiwillig mitgegangen ist. Er hat sie wahrscheinlich an irgendeinen Filmstar erinnert oder so etwas. Vertrau mir, deiner Mutter geht es gut. Sie kann auf sich selbst aufpassen. Sie wird nach Hause zurückkommen, wenn sie soweit ist. Du weißt, wie sie ist.«
Reggie drehte die Cola in ihrer Hand.
»Stimmt’s?«, sagte George.
»Stimmt«, pflichtete ihm Reggie bei und fühlte sich besser.
»Hey, wie wär’s, wenn du mir dabei hilfst, mit dem Angelschrank anzufangen? Ich kann Lorraine anrufen, damit sie sich keine Sorgen macht, ihr sagen, dass wir an etwas arbeiten, und dass ich dich in einer Stunde oder so nach Hause bringen werde. Wie klingt das?«
Reggie nickte begeistert, und George griff nach den Plänen.
»Wir können heute Abend den Grobschnitt machen. Ich habe da ein paar nette Eichenbretter. Sieh dir das mal an«, sagte er und zeigte auf eine der Zeichnungen. »Schwalbenschwanzverbindungen. Schön, nicht wahr? Es wird ein wenig knifflig werden, alle Schnitte richtig hinzukriegen, aber das wird es wert sein, denkst du nicht?«
Reggie nickte, spürte, wie sich ihr Körper entspannte – all die Aufregung wegen des braunen Autos, der verschwundenen Kellnerin und der Hand im Milchkarton verblasste, während sie die akkurate Zeichnung betrachtete, eine Nahaufnahme der kleinen trapezförmigen Teile, die wie Puzzleteilchen zusammenpassen würden und die die Wände des Schrankes fest, beinahe perfekt zusammenfügten, ohne dass man Nägel oder Schrauben brauchte.
11 16. Oktober 2010 – Brighton Falls, Connecticut
DER RAUCH WABERTE AUS der offenen Tür hinter Lorraine.
»Ruf die Feuerwehr an«, wies Reggie sie an und hielt ihrer Tante ihr Mobiltelefon hin. Lorraine blickte auf das Telefon, als wäre es eine Laserpistole. In ihr Gesicht waren Falten eingegraben, und ihr Haar war völlig weiß – bis auf die Stellen, wo es an den Enden versengt war. Sie hatte eine leicht gebeugte Haltung, mit hochgezogenen Schultern und gerecktem Hals, wodurch sie Reggie an eine Schildkröte erinnerte.
Das letzte Mal, dass Reggie Lorraine gesehen hatte, war als Lorraine und George zu Reggies Abschlussfeier an der Rhode Island Schule für Design gekommen waren. Seitdem hatte Lorraine jede Woche angerufen, Reggie jedoch niemals gedrängt, zu einem Besuch nach Hause zu kommen. Reggie hatte immer darauf geachtet, davon zu sprechen, wie beschäftigt sie war, dass sie Pläne hatte, ins Ausland zu reisen. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, ihre Tante einzuladen, sie zu besuchen, und Lorraine deutete niemals an, dass sie eine Einladung wollte. Reggie wusste von ihren wöchentlichen Anrufen, dass Lorraine vor ein paar Jahren ihren Job in der Grundschule aufgegeben und in Rente gegangen war und dass sie nun einen großen Teil ihrer freien Zeit damit verbrachte, ehrenamtlich beim Verein für Heimatpflege von Brighton Falls mitzuarbeiten.
»Ruf einfach 9-1-1 an und drück die ANDRUF -Taste«, sagte Reggie und legte das Telefon vorsichtig in die knochigen Hände ihrer Tante. Lorraine fing an, versuchsweise auf Tasten zu drücken. Reggie rannte um den Truck herum, zur Rückseite und griff nach dem Feuerlöscher, der neben der Werkzeugkiste festgemachtwar.
Mit dem schweren roten Feuerlöscher in der Hand blieb sie vor dem Beifahrerfenster stehen. »Bleib im Wagen, Mom. Steig nicht aus. Komm nicht herein. In Ordnung?«
Vera schenkte ihr ein nervöses Lächeln. »Hat er uns hier geschlagen?«, fragte sie.
»Wer?«, fragte Reggie.
»Der alte Beelzebub.«
Reggie versteifte sich, richtete ihren Blick auf den Eingang, wo der Rauch herauskam, ihr zuwinkte, sie herausforderte, hereinzukommen. »Ich denke nicht, Mom. Aber ich werde es überprüfen.«
Lorraine gab gerade dem Telefonisten der Notrufzentrale die Adresse durch. Sie hielt das Telefon vor ihr Gesicht und weg von ihrem Mund, als würde sie ein Walkie-Talkie benutzen.
Reggie atmete tief die saubere Luft ein und lief die Steinstufen hinauf, blickte durch die offene Tür und in den Rauch. Sie konnte keine Flammen sehen oder auch nur sagen, wo sich das Feuer befand.
Du hast genau eine Minute Zeit, um so viel mitzunehmen, wie du kannst. Wofür entscheidest du dich?
Hatte ihr Traum am frühen Morgen versucht sie zu warnen, sie auf genau diesen Augenblick vorzubereiten?
Und wenn sie hineinging und entdeckte, dass das Haus abbrannte und es keine Möglichkeit gab, das zu verhindern, was würde sie retten wollen? Sie war sich gar nicht sicher, dass es noch
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